
Kampf gegen Krebs Im Schatten der Pandemie
Seit zwei Jahren dreht sich alles um Corona, andere Krankheiten wie Krebs blieben oft unentdeckt und unbehandelt. Mit häufig fatalen Folgen. Wie viele Menschen in Deutschland betroffen sind, ist unklar. Die Datenlage ist dünn.
Der Knoten in ihrer Brust fühlte sich an, wie eine kleine Kastanie, erinnert sich die 37-Jährige aus Ingelheim am Rhein. Sie ertastete ihn im Januar 2021 - Deutschland befand sich im Corona-bedingten Lockdown.
Warum sie nicht zum Arzt ging? Sie erinnert sich an das Lockdown-Gefühl: Sich mit dem Partner einigeln, den neuen Job aus dem Homeoffice heraus zu managen, kaum Kontakte außerhalb zu haben, selten und dafür viel einzukaufen - und an eindringliche Appelle der Kanzlerin.
Das Risiko, mit vielen anderen Menschen im Wartezimmer zu sitzen und sich womöglich anzustecken mit dem Coronavirus, erschien ihr zu hoch. So verlor die 37-Jährige zwei wichtige Monate. Als der Krebs diagnostiziert wurde, waren bereits Lymphknoten befallen. Plötzlich zählte jeder Tag. Plötzlich blieb keine Zeit mehr, über Kinderplanung nachzudenken, geschweige denn eine Eizellenentnahme vorzubereiten. Plötzlich ging es ums Überleben.
Laut einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WldO) ist die junge Frau damit nicht allein. Während der ersten beiden Infektionswellen brachen deutschlandweit die Vorsorgeuntersuchungen ein, teils um fast 20 Prozent. Die Angst, sich beim Arzt mit Corona anzustecken, war allerdings nicht der einzige Grund. Der gemeinsame Bundesausschuss hatte am 20. März 2020 beschlossen, die Einladungen zu routinemäßigen Mammographie-Screenings für einen Monat auszusetzen.
Termin abgesagt
Termine wurden auch abgesagt, so wie im Fall einer 27-jährigen Frau aus Bamberg. Anfang März 2020 hatte sie einen Termin bei einem Schilddrüsenspezialisten. Haarausfall, Gewichtszunahme, bleierne Müdigkeit, Niedergeschlagenheit - die Studentin litt unter heftigen Symptomen. Doch dann wurde der erste Lockdown beschlossen und der Termin von einem Tag auf den anderen abgesagt.
Fünf Monate sollten vergehen, bis der Ersatztermin endlich feststand. Der Spezialist entdeckte zwar einen Knoten, stufte ihn allerdings als weitgehend unbedenklich ein. Die Patientin solle ihn aber demnächst entfernen. Doch da steckte das Land schon inmitten der zweiten Corona-Welle. Nun war es die 27-Jährige, die zögerte. Nach der Diagnose des Arztes spürte sie keinen unmittelbaren Handlungsdruck. So vergingen weitere Monate bis zur Operation. Ergebnis: Der Knoten war doch bösartig. Heute ersetzen Tabletten ihre Schilddrüse. Sie lebt mit der Angst, dass der Krebs zurückkommen könnte, auch, weil sie so viel wertvolle Zeit verloren hat.
"Es ging lange nur um Covid-19"
Jochen Werner leitet das Universitätsklinikum Essen. Es ist das zweitgrößte Corona-Zentrum Deutschlands sowie eines der größten Tumorzentren. Er engagiert sich in dem Krebs-Netzwerk "YesweCancer" und kämpft dafür, dass Krebskranke gesehen werden: "Wir haben zu oft zu wenig über all die anderen Patientinnen und Patienten gesprochen, weil immer wieder das Thema nur um Covid-19 ging."
Bundesweite Studien zu der Problematik gibt es bisher nicht. Johannes Bruns von der Deutschen Krebsgesellschaft erklärt ein deutsches Problem: Zwar zeige sich, dass die Zahl der Operationen von Krebs im Anfangsstadium sinke, dafür die Anzahl von Eingriffen bei fortgeschrittenen Erkrankungen ansteige. Der quantitative Beweis aber fehle letztlich für Deutschland. Die Krebsregister erfassen die Daten nämlich nur dezentral und im Rückblick. "Wichtig wäre eine aktuelle Datenerfassung, um handeln und auch lernen zu können."
Es fehlen die nötigen Daten
Markus Löffler von der Universitätsklinik für Chirurgie in Tübingen ist einer von drei Leitern des internationalen Forschungsnetzwerks COVIDSurg für Deutschland. Er war an einer Studie mit etwa 20.000 Krebskranken beteiligt, für die eine Operation vorgesehen war. Sie belegt, dass weltweit während Corona-Lockdowns Tumor-Operationen im Mittel um 5,3 Monate verschoben wurden und jeder siebte Betroffene die potenziell lebensrettende Operation verpasste.
Doch was sagt das konkret für die Situation der Krebskranken in Deutschland? Anders als etwa in England, wo die Daten relativ leicht systematisch und zentral erfasst werden könnten, tappt Deutschland hier im Dunkeln. Für Wissenschaftler Löffler ist klar: Hierzulande zeige die Pandemie, "dass wir echte Probleme haben verlässliche Aussagen zu treffen, weil uns dazu bislang die nötigen Daten fehlen".