Ein Junge mit frühkindlichen Autismus übt mit seiner Therapeutin das Erkennen und Schreiben von Buchstaben auf einer Tastatur

Neue Studie aus den USA Warum gibt es immer mehr Autismus-Diagnosen?

Stand: 23.02.2023 06:00 Uhr

Die Zahl der diagnostizierten Fälle von Menschen mit Autismus steigt seit Jahren an. Eine neue Studie aus den USA zeigt, dass vor allem Kinder betroffen sind. Auch Hausarztpraxen sind mittlerweile für das Thema sensibilisiert. Von E. Weidt.

Von Elena Weidt, SWR

Die Zahl der diagnostizierten Fälle von Menschen mit Autismus steigt seit Jahren an. Eine neue Studie aus den USA zeigt, dass vor allem Kinder betroffen sind. Auch Hausarztpraxen sind mittlerweile für das Thema sensibilisiert.

Weltweit werden immer mehr Autismus-Spektrum-Störungen gemeldet. Derzeit wird eine weltweite Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) von 0,6 bis einem Prozent angenommen. Der Trend zeigt sich auch hier: Eine neue Studie aus den USA, die jetzt im Fachblatt "Pediatrics" erschienen ist, legt dar, dass rund um die Metropole New York die Diagnosen von Autismus-Spektrum-Störungen um 500 Prozent gestiegen sind. Der höchste Anstieg in dieser Studie war bei Kindern zu verzeichnen. Woran liegt das?

"Ein internationales Phänomen"

"Inhaltlich liefert sie zunächst nicht sehr viel Neues. Ungefähr seit dem Jahr 2000 ist weltweit eine steigende Prävalenz von Autismus-Spektrum-Störungen zu verzeichnen, von vormals Promille- und heute Prozentbereich", erklärt Sven Bölte, Leiter des Zentrums für Neuroentwicklungsstörungen und der Abteilung für Neuropsychiatrie am Karolinska-Institut in Stockholm.  

"Dabei gibt es teils große Unterschiede beim Tempo in den verschiedenen Regionen, aber es ist ein internationales Phänomen". Weltweit, so der Wissenschaftler, liege die Rate mittlerweile bei etwa ein bis drei Prozent. Für Deutschland liegen keine konkreten Untersuchungen vor, häufig wird ein Wert von einem Prozent genannt.

Autismus tritt gehäuft familiär auf. Die genaue Ursache für Autismus ist bislang nicht ausreichend erforscht, genetische Faktoren spielen aber eine entscheidende Rolle. Als widerlegt gelten heute Vermutungen, Autismus entstehe durch lieblose Erziehung oder durch Impfstoffe. Der Einfluss der Umwelt ist dagegen noch nicht ausreichend untersucht.

Autismus-Spektrum-Störung

Eine Autismus-Spektrum-Störung ist eine neurologische Entwicklungsstörung. Sie zeigt sich in der Regel in frühkindlichen Jahren und beeinträchtigt die soziale Interaktion, die Art zu kommunizieren und einige Verhaltensmuster. Autismus wird diagnostisch in "Frühkindlichen Autismus", "Asperger-Syndrom" und "Atypischen Autismus" eingeteilt. Die Formen überschneiden sich, und es gibt unterschiedliche Ausprägungsgrade, weswegen der Oberbegriff Autismus-Spektrum-Störungen verwendet wird. 

Immer mehr Autistinnen und Autisten?

Ob es tatsächlich mehr Autistinnen und Autisten gibt, lässt sich nicht einfach mit ja oder nein beantworten. Das verdeutlichen bereits die Zahlen der aktuellen Studie aus den USA, erklärt Bölte:

Interessant ist, dass es laut Studie mehr diagnostizierte Fälle in hohen Einkommensschichten gibt. In Schweden ist das genau andersherum. Das hat sicherlich auch etwas mit der Gesundheitsversorgung zu tun und dem Zugang dazu. In den USA ist eine gute medizinische Versorgung viel stärker an das Einkommen gekoppelt als in Schweden. Bei Eingewanderten, die oft auch weniger Einkommen haben, sehen wir aber zum Beispiel keine besonders hohen Zahlen.

Mittlerweile unterscheiden Ärztinnen und Ärzte auch nicht mehr nur in verschiedene Formen von Autismus wie beispielsweise Asperger-Syndrom, sondern es wird von einem Spektrum autistischer Störungen ausgegangen. Die Diagnosekriterien sind also erweitert worden, weswegen per se schon mehr Menschen darunterfallen.  

"Heute werden auch sehr viele Erwachsene mit Autismus diagnostiziert. Der Autismus hat also die Erwachsenenpsychiatrie erschlossen, was früher nicht so war. Man diagnostiziert heute auch früher als damals", sagt Bölte. Auch Mädchen würden häufiger diagnostiziert, die früher eher übersehen wurden, da Autismus lange Zeit als Behinderung von Jungen galt.

Dass heutzutage insgesamt mehr Diagnosen gestellt werden, ist auch ein Ergebnis besserer Schulung von Ärzten und Ärztinnen. Im besten Fall erhalten Betroffene dadurch auch früher und häufiger entsprechende Hilfs- und Therapieangebote.  

Trenddiagnose Autismus?

Auch in den Medien spielt das Thema Autismus eine immer größere Rolle. Dennoch fühlen sich Betroffene häufig nicht gesehen. Viele Menschen mit Autismus erleben noch immer viele Barrieren in der Gesellschaft, etwa bei der Arbeitsplatzsuche: "Vor allem die Arbeitswelt ist nur in Einzelfällen bereit, auf die Bedürfnisse von Autistinnen und Autisten einzugehen", erklärt Samuel Otto.

Otto ist selbst Autist und setzt sich dafür ein, dass Betroffene in der medialen Diskussion zu Autismus mehr zu Wort kommen. "Das mit den Medien ist ein zweischneidiges Schwert", beurteilt er. Die Medien vermittelten zum Teil noch immer Stereotypen vom beispielsweise sozial isoliert lebenden auffälligen Autisten. Das sei kein aufklärendes Bild von Autismus.

"Dennoch wird das Thema durch die Medien so überhaupt erst wahrgenommen. Meiner Ansicht nach ist dies zwar kein idealer, aber ein notwendiger erster Schritt". Menschen in diesem Spektrum sichtbarer zu machen - in Serien, Filmen, Büchern - helfe auch, die Verschiedenheit anzuerkennen.

Otto beobachte und kritisiere dabei aber auch die Mode und einen gewissen Trend, Menschen mit Autismus zu imitieren. Es gibt mittlerweile Selbsttests im Internet: Gefühlt ist jeder, der etwas anders ist oder mit etwas Probleme hat, ein wenig autistisch, was natürlich nicht stimmt.

Leidensdruck einer späten Diagnose

Jedoch sei auch bei ihm die Selbstdiagnose ein wichtiger erster Schritt zur offiziellen Diagnose gewesen, betont Otto. Weil er als Kind versuchte zu funktionieren und stark maskierte, sich also anpasste, fiel er zunächst - wie noch immer viele andere - durch das Diagnoseraster, was den Leidensdruck für ihn enorm verlängerte. Viele Betroffene warten trotz erhöhter Aufmerksamkeit lange auf eine offizielle Diagnose.

Aktuelle Forschungsarbeiten der Universität Cambridge zeigen, wie gefährlich das sein kann: Die Wissenschaftlerinnen haben erstmals Hinweise auf Autismus und autistische Züge bei Personen untersucht, die in England durch Selbstmord gestorben sind. Die Forscher fanden heraus, dass zehn Prozent der Personen, die durch Selbstmord starben, Anzeichen für ausgeprägte autistische Züge aufwiesen, was auf einen wahrscheinlich nicht diagnostizierten Autismus hinweist.

Frühere Forschungsarbeiten zeigten bereits, dass sowohl diagnostizierte Autistinnen und Autisten als auch Menschen mit ausgeprägten autistischen Zügen anfälliger für psychische Probleme, Selbstmordgedanken und -verhalten sind.

Hilfe für Betroffene

Beim Verdacht auf eine Depression und als erste Anlaufstelle für Betroffene bieten die bundesweite Telefonseelsorge (https://www.telefonseelsorge.de) und die Stiftung Deutsche Depressionshilfe (https://www.deutsche-depressionshilfe.de) Unterstützung per E-Mail, Chat und Telefon.
Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222

In akuten Krisen, Notfällen und bei Suizidgedanken sollte umgehend eine psychiatrische Klinik oder der Notarzt telefonisch unter der 112 kontaktiert werden. Hier können psychiatrische Kliniken in der Umgebung gesucht werden.

Zusätzlich sollte in jedem Fall das Gespräch mit einem Arzt beziehungsweise mit einem Psychotherapeuten gesucht werden. Die hausärztliche Praxis sowie Online-Plattformen können bei der Suche und Vermittlung helfen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete SWR am 17. Februar 2023 um 12:18 Uhr.