
ESA-Strategiesuche Damit das All nicht zur Müllhalde wird
Kommunikation, Forschung, Überwachung: Immer mehr Satelliten kreisen um die Erde. Damit steigt auch die Zahl der Schrottteile, die wiederum andere Satelliten gefährden. Ab heute berät die ESA auf einer Tagung über das Problem. Der frühere Astronaut Thomas Reiter spricht im Interview mit tagesschau.de über mögliche Lösungen.
tagesschau.de: Wieviel Weltraummüll hat sich nach mehr als 60 Jahren Raumfahrt inzwischen angesammelt?
Thomas Reiter: Wenn man auf die Objekte schaut, die größer als zehn Zentimeter sind, sind das inzwischen mehr als 34.000. Und wenn man das herunterbricht auf Objekte zwischen einem Millimeter und einem Zentimer, liegen wir schon bei mehr als 128 Millionen Objekten. Dazu gehören ausgediente Satelliten, Oberstufen von Trägerraketen oder Adapter, die benutzt wurden, um die Satelliten in den Orbit zu bringen. Außerdem gibt es viele Bruchstücke von Kollisionen und Explosionen, etwa von Oberstufen, die im Orbit explodiert sind.

Thomas Reiter war als Astronaut zweimal im All - 1995/96 auf der Raumstation MIR und 2006 auf der Internationalen Raumstation ISS. Heute ist Reiter Koordinator für internationale Agenturen bei der Europäischen Weltraumagentur ESA.
tagesschau.de: Wie gefährlich ist der Müll?
Reiter: Diese Objekte sind wirklich gefährlich. Wir fliegen vom Satellitenkontrollzentrum in Darmstadt aus gegenwärtig 22 Satelliten und bekommen täglich etwa 1000 Kollisionswarnungen. Wir müssen im Schnitt ein bis zweimal pro Monat tatsächlich ein Ausweichmanöver durchführen.
Bei einem unser Erdbeobachtungssatelliten, dem Sentinel-1A, stellten wir im August 2016 fest, dass er sich plötzlich aus seiner Orientierung drehte. Dann haben wir eine Kamera an Bord aktiviert und gesehen, dass auf einem Solarpanel eine Delle von ungefähr 30 Zentimeter Durchmesser war. Dort war ein winziges Teil, wahrscheinlich weniger als ein Gramm schwer, mit einer Geschwindigkeit von etwa 50 Kilometer pro Sekunde eingeschlagen. Wir können von Glück sagen, dass nur ein paar Solarzellen zerstört wurden.
Satelliten nachhaltiger bauen - aber wie?
tagesschau.de: Worum geht es auf der Weltraummüllkonferenz?
Reiter: Das Themenspektrum ist weit. Es geht etwa um neue Verfahren, um Objekte im Weltraum zu messen - mit Hilfe von Radaren und optischen Instrumenten. Eine Frage ist: Wie kann ich die Umgebung modellieren? Die ganz kleinen Teilchen kann ich nicht mit einem Radar erfassen, aber ich kann Wahrscheinlichkeiten vorhersagen, wie gefährlich ein Kollisionsrisiko für aktive Satelliten ist. Oft stellen wir im Nachhinein fest, wenn wir tatsächlich Kollisionsvermeidungsmanöver mit unseren Satelliten geflogen sind: Das wäre gar nicht nötig gewesen. Ein weiteres Thema: Wie können wir Satelliten nachhaltiger bauen, das sie nach Einbringung in den Orbit etwa keine Klammern freisetzen, die die Solarpanele gefaltet halten und die dann als Weltraumschrott herumschweben?
tagesschau.de: Gibt es inzwischen Techniken, um Weltraummüll zu beseitigen?
Reiter: Weltweit arbeiten Firmen und Agenturen daran, Technologien zu entwickeln. Die ESA hat einen Vertrag mit einem Industriekonsortium geschlossen, dass einen kleinen Satelliten baut, der größere Schrottobjekte, etwa ausgediente Satelliten, mit Robotikarmen einfangen soll. Das Ziel ist, sie abzubremsen, damit sie möglichst schnell in die Erdatmosphäre eintreten und verglühen.
Auch sehr interessant sind zwei Missionen von US-amerikanischer Seite: Sie tanken Telekommunikationssatelliten gewissermaßen nach. Gerade erst hat so ein "Docking" stattgefunden: Ein kleiner Satellit fliegt mit einem besonders großen Tank zu einem Satelliten im Orbit, dem der Sprit ausgeht, und dockt an. Damit kann der Satellit fünf bis sieben Jahre länger verwendet werden.
tagesschau.de: Wie sehr wird die Anzahl der Satelliten im Erdorbit zunehmen?
Reiter: Gegenwärtig haben wir um die 3600 aktive Satelliten. Allein Elon Musk hat in diesem Jahr schon mehr als 400 Starlink-Satelliten gestartet. Weltweit sind allein im vergangenen Jahr mehr als 1200 Satelliten in den Orbit geschossen worden. Wie lange die Satelliten, die dann irgendwann nicht mehr funktionsfähig sind, im Weltraum bleiben, bevor sie in der Erdatmosphäre verglühen, hängt unter anderem von der Orbithöhe ab.
tagesschau.de: Wäre es technisch nicht möglich, die Satelliten am Ende ihrer Lebenszeit Richtung Erdatmosphäre zu steuern - kurz bevor ihnen der Sprit ausgeht?
Reiter: Die nutzbare Betriebsdauer eines Satelliten ist durch den Treibstoff definiert. Solange der Treibstoff da ist, kann der Satellit seine Orientierung halten. Das bedeutet etwa: Wenn er Erdbeobachtungsaufgaben hat, kann er die Kameras ausrichten. Das möchte man bis zum letzten Tröpfchen ausnutzen. Es wäre wünschenswert, wenn man die Satelliten mit den letzten Kilogramm Sprit aktiv abbremsen würde, damit sie schneller in die Erdatmosphäre eintreten und verglühen.
tagesschau.de: Kann man die Weltraumakteure - Staaten, Agenturen, Privatfirmen - nicht dazu verpflichten, ihren Schrott zu beseitigen?
Reiter: In den 60 Jahren Raumfahrt hat man feststellen müssen, dass es schwierig ist, allgemeinverbindliche Regulierungen einzuführen. Es gibt ein Weltraumgesetz von 1967, dass besagt, dass der Weltraum für alle nutzbar sein soll. Aber es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, was zu vermeiden ist. Der momentan aussichtsreichste Weg ist eine Regelung über nationale Gesetzgebungen, die sich idealerweise an international vereinbarten Richtlinien orientieren. Die einzelnen Länder müssen dafür sorgen, die Einbringung von Weltraumschrott zu minimieren und die Entsorgung der Satelliten am Ende ihrer Lebensdauer sicherzustellen.
Das Gespräch führte Ute Spangenberger für tagesschau.de.