
Kindererholungskuren In der Obhut von Nazis
Stand: 10.08.2020 05:00 Uhr
Sie wurden erniedrigt und gequält: Für viele Kinder wurde eine Kur in den 1950er- bis 1980er-Jahren zum Albtraum. Recherchen von Report Mainz zeigen: Mehrere Heime wurden von hochrangigen NS-Funktionären geleitet.
Von Ulrich Neumann und Philipp Reichert, SWR
Das ARD-Politikmagazin Report Mainz hat drei Fälle hochrangiger NS-Akteure recherchiert, die Kurheime leiteten und dort die Verantwortung für Zehntausende Kinder trugen.
Kriegverbrecher Werner Scheu
Unter ihnen ist der verurteilte Kriegsverbrecher Werner Scheu. Auf der Nordseeinsel Borkum leitete er jahrelang das Kinderkurheim "Möwennest".
In der NS-Zeit war Scheu Mitglied der NSDAP und der Waffen-SS. 1941 war er als Offizier an der Erschießung von 220 litauischen Juden beteiligt. Scheu tötete mehrere von ihnen und wurde deshalb später zu lebenslanger Haft verurteilt.
In seinem Heim wurden Kinder drangsaliert und gequält. Eine Betroffene, die in Scheus Heim zur Kur war, erinnert sich im Gespräch mit Report Mainz, zur Strafe in der Nacht stundenlang barfuß auf dem kalten Fußboden gestanden zu haben. Einmal sei sie sogar in die Sauna eingesperrt worden.

Kinderkurheim "Mövennest" auf Borkum (Quelle: Heimatverein Borkum) Bild: Heimatverein Borkum
SS-Generalmajor Hugo Kraas
In St. Peter Ording führte Hugo Kraas in den 1970er-Jahren das Kinderkurheim "Seeschloß".
Kraas war einer der ranghöchsten Generäle der Waffen-SS und ebenfalls Mitglied in der NSDAP. Ihm wurden zahlreiche Kriegsorden verliehen.
Nach Recherchen von Report Mainz blieb er bis zu seinem Tod ein überzeugter Nazi. So nahm er etwa 1966 an der Beerdigung des SS-Oberst-Gruppenführers Sepp Dietrich teil, einem verurteilten Kriegsverbrecher. Dort präsentierte er sich mit Ritterkreuz und weiteren NS-Orden. Außerdem war Kraas unter anderem Mitglied in der "Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS" (HIAG), die zeitweise vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch bewertet und beobachtet wurde.

Kraas (Dritter v. l.) mit Adolf Hitler Bild: bpk | Bayerische Staatsbibliothek | Archiv Heinrich Hoffmann
"NS-Arzt" Albert Viethen
Im bayerischen Berchtesgaden war Albert Viethen ärztlicher Leiter des Kinderkurheims "Schönsicht". Darüber hinaus arbeitete er in weiteren Kinderkurheimen.
In der NS-Zeit war Viethen Mitglied in rund einem Dutzend NS-Organisationen - von der NSDAP über den NS-Ärztebund bis zur SS. Außerdem war er an Euthanasie-Verbrechen beteiligt. Aus seiner Klinik wurden während der Nazizeit rund 20 Kinder in eine Tötungsanstalt überwiesen. Sieben wurden daraufhin dort nachweislich ermordet.
Auch im Kinderkurheim "Schönsicht" wurden Kinder gequält, berichten Betroffene im Gespräch mit Report Mainz. 1963 wurde Viethen wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Er kommt davon, weil er von den Mordaktionen nichts gewusst haben will. Historiker werten das als unglaubwürdige Ausrede.

Viethen bei der Untersuchung eines Kindes Bild: WDR
Kinder in Kuren systematisch gequält
Bis in die 1980er-Jahre wurden Millionen Kinder in Kuren geschickt. Dort sollten sie sich erholen und aufgepäppelt werden. Inzwischen ist bekannt, dass Kinder während dieser Kuren systematisch gequält und misshandelt wurden.
Eine Initiative von Betroffenen fordert, dass die Geschehnisse während der Kuren aufgearbeitet werden. Anja Röhl von der "Initiative Verschickungskinder" sagte Report Mainz, dass man verrohe, wenn man so viel morde wie in der Zeit des Faschismus. "Diese Verrohung schlägt sich auf das Menschenbild nieder und auch auf den Umgang mit Kindern", so Röhl.

Viele Betroffene leiden noch heute unter den Folgen der Kuren. Bild: WDR
Politik verspricht Aufarbeitung
Im Interview mit Report Mainz sicherte der Vorsitzende der Sozialministerkonferenz, Manfred Lucha, zu, die jahrzehntelangen und flächendeckenden Misshandlungen während der Kinderkuren aufzuarbeiten.
"Wir blicken da in einige Untiefen, in einige dunkle Löcher", so Lucha. Alles, was während der Kuren schlecht und ungesetzlich gewesen sei, müsse aufgearbeitet werden. Schließlich trage der Staat die Verantwortung für den Schutz der Kinder. "Da darf es kein Staatsversagen geben", so Lucha.