
Menschenhandel mit Vietnamesen Gefangen in moderner Sklaverei
Seit Jahren schleusen vietnamesische Organisationen Landsleute nach Europa und beuten ihre Opfer hier aus, auch Kinder und Jugendliche. Das BKA sagt diesem Menschenhandel laut RBB-Recherchen nun den Kampf an.
Chung* ist ein schmächtiger Junge. Seit einiger Zeit lebt er in Warschau an einem geheimen Ort. Wenn ihn die Angst überkommt, fängt er an zu zeichnen. Das beruhige ihn, erzählt er. Dabei wurden seine Peiniger längst verurteilt.
Chung ist Waise. Nach dem Tod der Eltern nahm ihn seine Großmutter auf, bis auch sie starb. Um zu überleben, sammelte er Muscheln, Schnecken, Treibholz und Flaschen. Eines Tages kam ein Landsmann auf den damals 15-Jährigen zu und bot ihm an, ihn nach Europa zu schleusen, um sich dort ein besseres Leben aufzubauen. Chung willigte ein.
Doch schon auf der Reise, die ihn über Russland und die baltischen Staaten nach Polen führte, überkamen ihn Zweifel. Immer wieder wurde er in Kellern festgehalten und zur Arbeit gezwungen. "Da hatte ich schon das Gefühl, dass ich vielleicht reingelegt wurde. Ich habe versucht mich zu wehren, aber die haben mich geschlagen." Auf dem Weg von Warschau nach Berlin endete Chungs Traum vom besseren Leben abrupt. Der Transporter, vollgestopft mit zwölf Vietnamesen, geriet in einen Unfall. Der polnische Fahrer floh und überließ die zum Teil schwer Verletzten ihrem Schicksal.
Hohes Dunkelfeld
"Wir gehen von einem sehr hohen Dunkelfeld aus", stellt Carsten Moritz vom Bundeskriminalamt (BKA) fest. Das Feld, von dem der leitende BKA-Mitarbeiter im RBB-Interview spricht, ist der Menschenhandel: Meist junge Vietnamesen werden in der Hoffnung auf ein Leben in Wohlstand nach Europa gelockt. Einmal angekommen müssen sie hier unter widrigsten Bedingungen arbeiten. "In Massagestudios, Restaurants, Nagelstudios", erklärt Moritz, aber "auch beim Zigarettenschmuggel, in der Schlachtindustrie". In Bordellen und im Drogengeschäft wurden ebenfalls Vietnamesen angetroffen.
Nach dem Unfall wurde Chung gefasst, er sagte in Polen aus. Die Schleuser wurden festgenommen, darunter auch Andrzej*. Der polnische Schwerkriminelle leitete eine dreiköpfige Gruppe, die im Auftrag der vietnamesischen Mafia Hunderte Vietnamesen aus Litauen nach Warschau und von dort weiter nach Belgien, Holland und Frankreich brachte - für 400 Euro pro Person, zusammengepfercht in Kleintransportern.
Über ihr Schicksal machte sich Andrzej keine Gedanken: "Sie waren eh alle gelb, klein und dünn". Schlagen würde er "solche" nie, erzählt er im Interview, angeblich aus "Angst, sie umzubringen" - und lacht. Inzwischen sitzt er in Haft, verurteilt wegen Menschenhandels, genauso wie seine Mitarbeiter und ein vietnamesischer Hintermann.

Junge Vietnamesen müssen hierzulande unter widrigen Bedingungen arbeiten - auch in Nagelstudios.
13-Jährige als Prostituierte
"Hochprofessionell, hierarchisch aufgebaut mit einer grauen Eminenz im Hintergrund, ähnlich einem international agierenden Unternehmen" - so beschreibt Markus Pfau, Leiter der Kriminalitätsbekämpfung bei der Bundespolizei in Halle die kriminellen vietnamesischen Organisationen, die in europaweiten Netzwerken zusammenarbeiten. Nach seinen Erkenntnissen verlangen die Menschenhändler bis zu 20.000 Euro für den Weg nach Westeuropa. Geld, das die Familien oder Jugendliche wie Chung oft gar nicht haben - und sich deshalb bei den Netzwerken verschulden.
"Man ist in Abhängigkeit, ganz klar", so Pfau. "Die Organisation hat den Betroffenen in der Hand, und wenn der nicht nach ihrer Pfeife tanzt, dann ist die Sache schnell aus für ihn. Es ist letztendlich moderne Sklaverei."
Versklavt werden auch Minderjährige. "Wir hatten Fälle, wo wir 13-, 14-jährige Mädchen als Prostituierte wiedergefunden haben, die dafür eingeschleust worden sind", schildert Markus Pfau. "Und wir hatten Einzelfälle, wo Minderjährige auf Cannabis-Plantagen eingesetzt worden sind."
Berlin als "Dreh- und Angelpunkt"
Berlin ist für die Schleuser und Menschenhändler "Dreh- und Angelpunkt", stellt BKA-Referatsleiter Moritz fest. Auf einem Industrie- und Gewerbegebiet im Ostteil der Stadt werden die meisten geschleusten Vietnamesen "abgeliefert" und weiter verteilt - ins gesamte Bundesgebiet.
Doch ausgerechnet in Berlin will man das Problem des vietnamesischen Menschenhandels nicht erkennen. "Die Kriterien für Menschenhandel im Kontext Schleusung sind im Regelfall nach unseren Erfahrungen nicht erfüllt", erklärt Sebastian Laudan, Chefermittler im Bereich der Organisierte Kriminalität im Landeskriminalamt Berlin. Damit stellt er sich nicht nur gegen die Einschätzung des Bundespolizisten Markus Pfau, sondern auch die des BKA. "Diese Schleusungen," so BKA-Referatsleiter Moritz, "dienen immer einem Zweck: Menschenhandel."
Systemisches Versagen
Die Sichtweise der Berliner Polizei ist dabei kein Einzelfall. Ermittlungen wegen Menschenhandels sind mühsam und erfordern entsprechende Strukturen. Doch genau die fehlen in Deutschland, kritisiert Kevin Hyland. Er ist Mitglied der Expertengruppe des Europarats für die Bekämpfung des Menschenhandels. Deutschland hatte sich bereits 2005 völkerrechtlich verpflichtet, gegen den Menschenhandel vorzugehen, doch zentrale Forderungen wurden bislang nicht umgesetzt. "Es gibt bis heute keinen nationalen Menschenhandelsbeauftragten und kein nationales Opferschutzprogramm." Der Pflicht zu proaktiven Ermittlungen werde nicht nachgekommen, so Hyland.
Ganz anders Hylands Heimatland Großbritannien. Dort war er der erste Anti-Sklavereibeauftragte der Regierung. 2015 verabschiedete Großbritannien das weltweit erste Gesetz zur Bekämpfung von moderner Sklaverei und Menschenhandel. Bei den "proaktiven" Ermittlungen wurde deutlich: Vietnamesen sind die größte außereuropäische Opfergruppe des Menschenhandels - fast 900 in 2019, davon knapp die Hälfte minderjährig. Selbst im Corona-Jahr 2020 wurden in der ersten drei Quartalen 500 mögliche Opfer identifiziert. Ihr Weg führte fast immer über Deutschland.
Doch das BKA bestätigt für 2019 lediglich sieben vietnamesische Betroffene. Dass diese Zahl nicht die Wirklichkeit abbildet, ist auch dem BKA klar. Deshalb macht es den Menschenhandel von Vietnamesen in Deutschland und Europa ab 2021 zu einem Schwerpunkt, gemeinsam mit 13 weiteren europäischen Ermittlungsbehörden. Denn, so Moritz, es handelt sich um "ein gesamteuropäisches Problem", das nur europäisch bekämpft werden kann.
*Name von der Redaktion geändert
Das Erste sendet dazu um 23:05 Uhr eine Dokumentation "Handelsware Kind - Die Mafia der Menschenhändler", sie ist bereits ab 18 Uhr in der ARD-Mediathek abrufbar.