
Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte 150 Milliarden Euro Schaden
Mindestens 150 Milliarden Euro - so hoch ist laut ARD-Magazin Panorama der Schaden durch Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte weltweit. Auch in Deutschland verlor der Staat Milliarden. Kritiker meinen, Finanzminister hätten das unterbinden müssen.
Nach neuen Berechnungen beläuft sich der weltweite Schaden durch Cum-Ex, Cum-Cum und vergleichbare Betrugssysteme auf mindestens 150 Milliarden Euro. Dieses Geld ließen sich Banken und andere Finanzakteure "zurückerstatten", obwohl sie entsprechende Steuern nie gezahlt hatten. Neben Deutschland und den USA wurden zwischen den Jahren 2000 und 2020 mindestens zehn europäische Staaten Opfer dieses Steuerraubzugs. Das haben gemeinsame Recherchen von 15 internationalen Medienpartnern ergeben, an denen in Deutschland Correctiv und das ARD-Magazin Panorama beteiligt waren.
Weiteres Ergebnis der Panorama-Recherchen: Die Bundesregierung scheint sogenannte Cum-Cum-Geschäfte bis heute nicht effektiv zu bekämpfen, obwohl ihr die immensen Verluste, die der Steuerkasse dadurch entstehen, bekannt sind. Namhafte Steuerexperten und Finanzrichter sehen die Verantwortung für den milliardenschweren Steuerdiebstahl auch bei Finanzminister Olaf Scholz und seinem Vorgänger Wolfgang Schäuble, weil sie jahrelang trotz Warnungen keine Maßnahmen ergriffen haben, um dieses Geschäft endgültig zu unterbinden, wie es in anderen Ländern längst geschehen ist.
Cum-Ex-Geschäfte heißen so, weil große Pakete von Aktien mit ("cum") und ohne ("ex") Dividendenanspruch rund um den Stichtag für die Ausschüttung in rascher Folge hin- und hergeschoben wurden. Die bewusst undurchsichtigen Transaktionen hatten nur ein Ziel: bei den Finanzbehörden möglichst große Verwirrung stiften. Mit diesem Trick ließen sich die Beteiligten im großen Stil Kapitalertragssteuer erstatten, die nie gezahlt wurde. Die Gewinne wurden aufgeteilt. Möglich machte das eine Gesetzeslücke, die inzwischen geschlossen wurde. Bis dahin hatte das Cum-Ex-Geschäft geboomt - jahrelang.
Seit Jahren Warnungen von Experten
Der Mannheimer Steuerprofessor Christoph Spengel warnt seit Jahren vor dem milliardenschweren Steuerraub durch Aktiengeschäfte wie Cum-Cum. "Die Information hat auch das Bundesfinanzministerium, und zwar zumindest von mir", sagt Spengel im Interview mit Panorama. Spengel ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Bundesfinanzministeriums (BMF). Seine Korrespondenz mit der Leitungsebene des Finanzministeriums liegt Panorama vor. "Der Finanzminister dient unserem Land. Und wenn man Informationen hat, Erkenntnisse, dass die Steuern nicht so erhoben werden, wie es die Gesetze vorsehen oder dass sogar Steuern erstattet werden, die man gar nicht eingenommen hat, dann muss der Minister aktiv werden", sagt Spengel.

Steuerexperte Spengel warnte das Finanzministerium schon vor Jahren vor der Masche.
Das BMF erwidert auf Panorama-Anfrage, die Finanzbehörden seien intensiv mit der Aufarbeitung von Cum-Cum-Gestaltungen befasst. Auch sei man "den Hinweisen von Professor Spengel bereits nachgegangen" und habe sie "an die zuständige Sondereinheit zur Bekämpfung kapitalmarktorientierter Steuergestaltungen beim Bundeszentralamt für Steuern weitergeleitet".
Offenbar viele Banken betroffen
Bei Cum-Cum verschieben ausländische Anleger ihre Aktien vor der Dividendenausschüttung ins Inland, um unrechtmäßig Steuern zu sparen. "Wir müssen davon ausgehen, dass fast alle Banken in Deutschland Cum-Cum mitgemacht haben", sagt Gerhard Schick von der Nichtregierungsorganisation Finanzwende. Schick untermauert dies mit einer Abfrage der Bafin aus dem Jahr 2017.
Gegenüber der Bankenaufsicht räumten damals 85 Geldinstitute ein, in Cum-Cum-Gestaltungen involviert gewesen zu sein. Davon gaben 77 Institute an, finanzielle Belastungen zu erwarten, sollten die durch Cum-Cum-Geschäfte erzielten Gelder zurückgefordert werden.
Experte: Cum-Cum-Geschäfte gehen weiter
Nach den Erhebungen des Mannheimer Steuerprofessors Spengel betreiben Banken auch in Deutschland bis heute weiter Cum-Cum-Geschäfte. Ein wesentlicher Grund für die Fortführung dieses Steuerdiebstahls ist offenbar die irrige Annahme, dass Cum-Cum - anders als Cum-Ex - nicht illegal sei.

Richter Lotzgeselle hält die Cum-Cum-Geschäfte für strafbar.
Dem widerspricht Helmut Lotzgeselle. Unter seinem Vorsitz hat das Hessische Finanzgericht Anfang 2020 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Landesbank wegen ihrer Cum-Cum-Geschäfte verurteilt. Lotzgeselle sieht die illegalen Aktiengeschäfte aber nicht bloß unter dem steuerrechtlichen Aspekt. "Für mich sind Cum-Cum-Geschäfte nicht nur ein Gestaltungsmissbrauch und eine Steuerumgehung, für mich als Jurist sind Cum-Cum-Geschäfte auch eine Straftat", sagt Lotzgeselle zu Panorama. "Ich kann nur hoffen, dass man diese Fälle alsbald aufgreift, um die Gelder - und hier geht es um Milliarden - zurückzufordern und diejenigen bestraft, die aufgrund ihrer Gier dem Steuerzahler diese Milliarden entzogen haben."
Offenbar zweistellige Milliardenbeträge an Steuern verloren
Die Erhebungen des Teams von Spengel haben ergeben, dass in Deutschland durch Cum-Ex, Cum-Cum und ähnliche Geschäfte in den Jahren 2000 bis 2020 mindestens ein Steuerschaden von 35,9 Milliarden Euro entstanden ist. Der größte Teil davon entstand durch Cum-Cum-Geschäfte. "Da sind jetzt Milliarden, die ausstehen, und die Verjährung droht da jederzeit. Es ist schon so viel Zeit verflossen, dass man jetzt eigentlich kaum noch Möglichkeiten hat, alles Geld zurückzuholen."
"Es wird nur ein kleiner Teil sein, aber zumindest den sollte man jetzt versuchen zurückzuholen", sagt Finanzwende-Chef Gerhard Schick, einst Grünen-Bundestagabgeordneter und Initiator des Untersuchungsausschusses Cum-Ex. "Es besteht der Verdacht, dass die Politik die Banken insoweit schützen möchte, indem sie die Fälle nicht aufgreift. Denn es geht um sehr viel Geld und möglicherweise sind auch viele in der Sache mittelbar betroffen", sagt Finanzrichter Lotzgeselle Panorama.
Das BMF teilt mit, eine Abfrage bei den Obersten Finanzbehörden der Länder habe ergeben, dass zur Zeit 102 Cum-Cum-Fälle bearbeitet werden und die Landesfinanzverwaltungen davon ausgehen, rund 135 Millionen Euro zurückfordern zu können. Dabei handelt es sich allerdings um ältere Fälle. Seit 2016 seien keine Cum-Cum-Fälle bekannt.
Bisher keine Anklagen wegen Cum-Cum-Geschäften
Strafrechtlich hat sich bislang in Deutschland noch keine Staatsanwaltschaft den Betreibern von illegalen Cum-Cum-Geschäften angenommen. Anders sieht es bei den Cum-Ex-Deals aus. Allein die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen mehr als 1000 Beschuldigte, darunter den britischen Staatsbürger Sanjay Shah. Er gilt als einer der größten Steuerräuber der Welt. Shah hält sich seit Jahren in Dubai auf.
Neben der Kölner Staatsanwaltschaft ermitteln auch Behörden in Luxemburg, Belgien und Dänemark gegen ihn. Er allein wird für einen Steuerschaden von mehr als einer Milliarde Euro verantwortlich gemacht. "Er ist sicherlich einer, der am meisten Risiko eingegangen ist. Er hat das schon sehr auffällig gemacht und deswegen ist er auch relativ schnell aufgeflogen", sagt Oberstaatsanwältin Brorhilker, die ebenfalls gegen den britischen Staatsbürger ermittelt.
Gegen Sanjay Shah liegt ein internationaler Haftbefehl vor. Sollte er die Vereinigten Arabischen Emirate verlassen, droht ihm die Festnahme. Aber das schreckt den mutmaßlichen Steuerräuber wenig. In seinem ersten deutschen TV-Interview offenbart er: "Mein Plan ist es, bald wieder in das Geschäft einzusteigen."
Unter dem Namen "CumEx Files 2.0" haben sich unter Leitung des Recherchezentrums CORRECTIV 15 Medien aus 15 Ländern zusammengetan, um das ganze Ausmaß des Steuerraubs zu recherchieren. Dazu gehören neben dem ARD-Magazin Panorama“auch die BBC aus Großbritannien, Le Monde aus Frankreich oder NBC aus den USA. Die Ergebnisse der Recherchen werden auf der Website www.cumex-files.com zusammengeführt. In den sozialen Medien laufen sie unter dem Hashtag #CumExFiles.