Ljydmyla Denissowa
faktenfinder

Ukraine Warum wurde die Menschenrechtsbeauftragte entlassen?

Stand: 15.06.2022 16:08 Uhr

Der Fall sorgte international für Aufsehen: die Entlassung der ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Denissowa durch das Parlament. Sowohl das Vorgehen als auch Denissowa selbst stehen in der Kritik. Was sind die Hintergründe?

Von Von Pascal Siggelkow, Redaktion ARD-faktenfinder

Sie hat russische Kriegsverbrechen angeprangert, an das Gewissen europäischer Politiker appelliert: Der Fall der Menschenrechtsbeauftragten der Ukraine, Ljydmyla Denissowa, schlägt hohe Wellen. Mitten im Krieg stimmte eine Mehrheit der ukrainischen Abgeordneten Ende Mai für eine Entlassung der Ombudsfrau, obwohl ihre Amtszeit erst im kommenden Jahr ausgelaufen wäre. Wie konnte es dazu kommen?

Denissowa, seit 2018 Menschenrechtsbeauftragte der Ukraine, war seit dem russischen Angriff sehr präsent. So berichtete sie unter anderem von Vergewaltigungen, darunter an Kindern, durch russische Soldaten im zwischenzeitlich belagerten Butscha und Verschleppungen ukrainischer Bürger im ebenfalls besetzten Cherson. Internationale Medien bezogen sich in ihrer Berichterstattung auf sie. Sie reiste durch Europa und sprach vor Politikern, um auf die Situation in der Ukraine aufmerksam zu machen. Doch dies soll ihr jetzt mit zum Verhängnis geworden sein.

Vorwurf: Fehlende Belege

Die Menschenrechtsbeauftragte soll bei ihren Schilderungen zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen zumindest übertrieben, wenn nicht gar gelogen haben. Der Abgeordnete Pawlo Frolow von der Regierungspartei "Diener des Volkes" schrieb auf Facebook, Denissowa habe ihre Beschreibungen zu den behaupteten Sexualverbrechen nicht durch Beweise gestützt. Dies habe "der Ukraine nur geschadet und die Aufmerksamkeit der Medien von den realen Problemen abgelenkt".

Denissowa selbst räumte nach ihrer Entlassung ein, bei einem Auftritt im italienischen Parlament ihre Schilderungen "ausgeschmückt" zu haben. "Vielleicht habe ich übertrieben", sagte sie in einem Interview mit dem ukrainischen Webportal LB.ua.

"Aber ich habe versucht, das Ziel zu erreichen, die Welt davon zu überzeugen, Waffen zu liefern und damit Druck auf Russland auszuüben." Zudem verwies sie darauf, dass sie sich bei den Schilderungen auf Behörden und Menschenrechtsorganisationen bezogen habe.

Kritik von Fachleuten und Journalistinnen

Bereits zuvor hatte es Kritik an Denissowas detaillierten Beschreibungen gegeben. Etwa 90 ukrainische Journalisten und mehr als 50 andere Fachleute hatten einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie ihre Besorgnis und Empörung darüber zum Ausdruck brachten, dass Denissowa bei der Verbreitung von Vorwürfen von Sexualverbrechen, insbesondere solchen, an denen Kinder und Minderjährige beteiligt gewesen sein sollen, unsensibel gewesen sei.

Für Stirnrunzeln hatte die Menschenrechtsbeauftragte zudem gesorgt, weil sie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) öffentlich eine Komplizenschaft mit Moskau unterstellt hatte.

Während vor allem prorussische Medien den Vorfall nutzen, um die Glaubwürdigkeit der Ukraine insgesamt infrage zu stellen, beweist die Entlassung Denissowas für den ukrainischen Journalisten Denis Trubetskoy das Gegenteil: "Sie wurde entlassen, weil die Glaubwürdigkeit für dieses Land sehr wohl eine Rolle spielt." Ihre Fehler seien thematisiert und die Konsequenzen aus ihrem Verhalten gezogen worden, sagt er dem ARD-faktenfinder.

Weitere Vorwürfe

Der Abgeordnete Frolow beschuldigte die Menschenrechtsbeauftragte darüber hinaus, sie verbringe seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs viel Zeit in Westeuropa, statt sich in Russland oder Belarus für aus der Ukraine verschleppte Zivilisten oder Kriegsgefangene einzusetzen. Darum habe sich anstelle Denissowas vor allem Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk gekümmert, erklärte die Regierungspartei. Auch um die Errichtung von Fluchtkorridoren in den umkämpften Gebieten habe sie sich nicht gekümmert, erklärte das Parlament in seiner Begründung für die Entlassung.

Für Trubetskoy kam die Entlassung Denissowas daher wenig überraschend. "Mit ihrer Arbeit waren viele unzufrieden, auch mit dem Team um Selenskyj pflegte sie keine guten Verbindungen", sagt er. Dass sie in dem Amt der Menschenrechtsbeauftragten eigentlich nichts verloren habe, sei in der Ukraine Konsens.

War die Entlassung rechtmäßig?

Denissowa war 2018 noch während der Amtszeit des damaligen Präsidenten Petro Poroschenko vom Parlament zur Ombudsfrau gewählt worden. Nur seine Partei "Europäische Solidarität" und die Partei "Vaterland" von Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko waren gegen ihre Entlassung. Dies sei jedoch Ausdruck von innenpolitischen Verwerfungen, erklärt Trubetskoy.

So umstritten Denissowa war, so wirft ihre Entlassung doch Fragen auf: Ob diese rechtmäßig war, sei unklar, so der Journalist Trubetskoy: "Es gibt dazu zwei Gesetzesregelungen, die sich gegenseitig widersprechen." Denn eine vorzeitige Entlassung der Menschenrechtsbeauftragten ist von der ukrainischen Verfassung nicht vorgesehen. Die Parlamentarier beriefen sich bei ihrer Entscheidung jedoch auf das Kriegsrecht, demzufolge alle ihrer bisherigen Ernennungen widerrufen werden dürfen.

Das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte in Kiew sah jedoch die "Unabhängigkeit einer wichtigen Menschenrechtsinstitution in der Ukraine" untergraben. "Wir fordern die Behörden auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die Unabhängigkeit der Ombudsperson zu gewährleisten und sich an internationale Standards in Recht und Praxis zu halten", schrieb die UN-Vertretung auf Twitter.

Auch viele der Unterzeichner des offenen Briefes gegen Denissowa kritisieren das Vorgehen. Es handele sich um reine Willkür, damit werde das Amt beschädigt, sagte etwa Tatjana Petschontschyk, Leiterin des Menschenrechtszentrums ZMINA.

Nun warnen Aktivisten vor neuerlichen politischen Intrigen, wie es schon bei der Wahl von Denissowa 2018 der Fall gewesen sei. Sie fordern einen offenen und fairen Wettbewerb. Denissowa wiederum kündigte an, ihren Fall vor Gericht zu bringen. Nur ein Rücktritt ihrerseits hätte wohl weiteren Schaden verhindern können.