Wolodymyr Selenskyj während seines Besuchs in Isjum in der Region Charkiw

Zurückeroberte Gebiete Ukraine sieht Hinweise auf Kriegsverbrechen

Stand: 14.09.2022 18:37 Uhr

Ukrainische Staatsanwälte haben Ermittlungen angekündigt: Auch in den zurückeroberten östlichen Gebieten gebe es Hinweise auf Kriegsverbrechen. Die gleichen Bilder habe man in Butscha gesehen, sagte Präsident Selenskyj.

Nach dem Rückzug russischer Truppen aus dem Osten des Landes sieht die Ukraine Hinweise für Kriegsverbrechen in dem Gebiet. Staatsanwälte kündigten die Einrichtung von Ermittlungsteams an. Demnach wurden sechs Leichen mit Anzeichen von Folter in zurückeroberten Dörfern entdeckt. "Wir haben ein schreckliches Bild von dem, was die Besatzer getan haben, insbesondere in der Region Charkiw", sagte Generalstaatsanwalt Andrij Kostin. "Städte wie Balaklija, Isjum stehen in einer Reihe mit Butscha, Borodjanka, Irpin."

Der Leiter der Charkiwer Staatsanwaltschaft, Oleksandr Filtschakow, sagte, Leichen seien in den Dörfern Hrakowe und Salisnytschne gefunden worden, etwa 60 Kilometer südöstlich der Stadt Charkiw. Von vier Leichen in Salisnytschne hatte die Behörde bereits zuvor berichtet. Filtschakow sagte, Ermittler hätten auch davon erfahren, dass Anwohner in der zurückeroberten Stadt Balaklija von russischen Soldaten getötet und vergraben worden seien.

So berichtete der ranghohe ukrainische Polizist Serhij Bolwinow aus Balaklija, dass die Invasoren im örtlichen Polizeirevier ein Foltergefängnis unterhalten hätten. Im Keller seien während der mehrere Monate dauernden Besatzung immer etwa 40 Menschen eingesperrt gewesen. Nach Zeugenaussagen seien Gefangene mit Stromschlägen gefoltert worden, so die Ermittler.

Konfliktparteien als Quelle

Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.

"Die gleichen zerstörten Gebäude, getöteten Menschen"

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach bei einem Besuch in der zurückeroberten Stadt Isjum von einem schockierenden Anblick, der ihn jedoch nicht überrasche. Die gleichen Bilder habe man in Butscha und anderen Gebieten gesehen, aus denen die russischen Soldaten abzogen. "Die gleichen zerstörten Gebäude, getöteten Menschen."

Selenskyj auch anwesend, als in Isjum wieder die ukrainische Flagge gehisst wurde. Er kündigte zudem ein weiteres Vorrücken der ukrainischen Armee an: "Wir bewegen uns nur in eine Richtung", sagte er - "vorwärts und bis zum Sieg." Die blau-gelbe Flagge wehe nun bereits im befreiten Isjum. "Und genauso wird sie in jeder ukrainischen Stadt und in jedem ukrainischen Dorf wehen."

Präsident Selenskyj bestürzt über Hinweise auf Kriegsverbrechen in der ostukrainischen Stadt Isjum

Tobias Dammers, WDR, zzt. Charkiw, tagesthemen, tagesthemen, 14.09.2022 22:15 Uhr

Laut Ukraine Hunderte Ortschaften zurückerobert

Die Ukraine hat eigenen Angaben zufolge bei ihrer Gegenoffensive große Erfolge in der nordöstlichen Region Charkiw sowie an der südlichen Front nahe Cherson am Schwarzen Meer erzielt. Demnach sollen ukrainische Truppen seit Anfang September Hunderte Dörfer und Städte zurückerobert haben. Selenskyj nannte bei seinem Besuch auch die russische Annexion der Krim vor acht Jahren eine "Tragödie" und versprach, dass seine Truppen die Halbinsel letztendlich zurückerobern würden. 

Die ukrainische Vize-Regierungschefin Olha Stefanischyna sagte dem französischen Sender France24, es habe zuletzt von russischer Seite gewisse Kontaktaufnahmen gegeben. Zugleich schränkte sie ein: "Wir sollten nicht nur über die Verhandlungen sprechen, sondern auch den Zweck dieser Kontaktaufnahmen Russlands." Möglicherweise wolle Russland mit solchen Vorschlägen nur ablenken. "Wir werden bereit sein zu Verhandlungen, wenn der Augenblick für die Ukraine passend ist."

Kreml lehnte ukrainisches Konzept ab

Der Kreml gab sich unterdessen weiter unnachgiebig. Ein von der Ukraine vorgelegtes Konzept für Sicherheitsgarantien bezeichnete Moskau als Gefahr für Russland. Die Ukraine strebe weiter eine NATO-Mitgliedschaft an, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. "Dementsprechend bleibt auch die größte Gefahr für unser Land bestehen und damit bleibt auch der Grund für die Notwendigkeit der militärischen Spezialoperation aktuell, ja er wird sogar noch aktueller." Russlands Position zu dem Konzept sei "negativ".

Kiew hatte am Dienstag ein Konzept für die Zeit nach dem Ende des Krieges vorgelegt. Dabei soll unter anderem eine Gruppe von Ländern politisch und rechtlich die Sicherheit der Ukraine garantieren.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 14. September 2022 um 16:00 Uhr.