Wirecard-Logo am ehemaligen Konzernsitz in Aschheim | REUTERS

Betrugsaffäre Warten auf die Anklage im Wirecard-Skandal

Stand: 29.12.2021 08:22 Uhr

Die Aufarbeitung des Wirecard-Skandals kommt nur langsam voran. Eineinhalb Jahre nach der Insolvenz des Konzerns gibt es noch nicht einmal eine Anklage. Zunehmend richten sich die Blicke auch auf die Rolle des Prüfers EY.

Von Lothar Gries, tagesschau.de

Wirecard, der größte Betrugskandal in der Geschichte der Bundesrepublik, erregt noch immer die Gemüter. Auch eineinhalb Jahre nach der Insolvenz des einstigen Zahlungsabwicklers warten Aktionäre und Gläubiger auf Entschädigungen - in Milliardenhöhe. Doch die Justiz tut sich schwer mit dem Fall. So hat die Münchner Staatsanwaltschaft noch immer keine Anklage erhoben - weder gegen Ex-Vorstand Markus Braun, noch gegen den flüchtigen Co-Vorstand Jan Marsalek. Ein Sprecher des Oberlandesgerichts München teilte einen Tag vor Weihnachten mit, dass das Gericht mittlerweile von einer Anklage bis Mitte März ausgehe - unter der Voraussetzung, dass keine unvorhergesehenen Schwierigkeiten bei den Ermittlungen auftreten.

Über den Stand der Untersuchungen ist wenig bekannt. So bleibt unklar, ob inzwischen wichtige Zeugen befragt wurden - allen voran Pav Gill, der frühere Leiter der Rechtsabteilung in Asien. Gemeinsam mit seiner Mutter hat er entscheidend dazu beigetragen, dass der Skandal an die Öffentlichkeit gelangte, nachdem ihm schon wenige Wochen nach seinem Arbeitsbeginn klar war, dass die von Wirecard ausgewiesenen Bilanzen Unstimmigkeiten enthielten. Statt jedoch für seine Arbeit belobigt zu werden, wurde ihm gekündigt. Später erhielt er sogar Drohungen, wie er sie im kriminellen Milieu, aber nicht aus einem DAX-Unternehmen erwartet hätte.

"Braun hat alles entschieden"

Und Markus Braun, der stets wie ein deutscher Steve Jobs auftretende frühere Wirecard-Chef? Seine Hoffnung auf eine Entlassung aus der Untersuchungshaft haben sich nicht erfüllt. Er musste auch die Feiertage in Untersuchungshaft verbringen. Mitte Dezember ordnete der zweite Strafsenat des Oberlandesgerichts München die Fortdauer der U-Haft an. Damit ist der Versuch von Brauns Anwälten und seinem PR-Berater, Dirk Metz, früher Sprecher des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, vorerst gescheitert, den Manager als Unschuldslamm darzustellen.

Dass Braun von den Schattenstrukturen und Veruntreuungen bei Wirecard nichts wusste und von ihnen auch nicht profitierte, hat sich nämlich als Märchen erwiesen, wie die Recherchen der WiWo-Reporter Melanie Bergermann und Volker ter Haseborg ergeben haben. Ein Zeuge im Wirecard-Untersuchungsausschuss erinnert sich ebenfalls anders als Brauns Berater behaupten. "Der Konzern war geprägt durch Markus Braun, die Unternehmenskultur auch. Er hat alles entschieden, er hat alles vorgegeben, auch das Wachstum. Da war rechts und links kein Platz. Richtlinien und Gesetze haben ihn nicht interessiert."

Und nun? Mit einer Anklage gegen Braun wird aktuell im ersten Quartal 2022 gerechnet, über ein Jahr später als erwartet. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts des bandenmäßigen Betrugs, der Untreue, falscher Darstellung und Marktmanipulation. Während sich die Staatsanwaltschaft zu den Gründen für die Verzögerung in Schweigen hüllt, verweisen Experten auf die extreme Komplexität des Falls. Sie erwarten, dass die Aufdeckung aller Aspekte des Tatkomplexes Jahre dauern wird.

Erfundene Milliarden

So lange wollen weder die Aktionäre noch der Insolvenzverwalter Michael Jaffé warten. Er hält es für erwiesen, dass die angeblich auf Treuhandkonten liegenden 1,9 Milliarden Euro in der Bilanz des Zahlungsabwicklers nie existiert haben. In einem Verfahren vor dem Landgericht München will Jaffé nun die Bilanzen von Wirecard aus den Jahren 2017 und 2018 für nichtig erklären lassen, wie er Mitte Dezember bekannt gab. Er macht geltend, dass in der Bilanz von 2017 gut 740 Millionen, ein Jahr später sogar gut 970 Millionen Euro fehlten. Auch habe Wirecard in Wahrheit seit 2015 hohe Verluste geschrieben - insgesamt 1,1 Milliarden Euro.

Auf dieser Grundlage könnte er zugunsten der Gläubiger Dividenden - insgesamt 47 Millionen Euro - und Steuern von den Anlegern und vom Staat zurückfordern. Mit einem Urteil zu seinen Gunsten könnte auch der Druck auf die Wirtschaftsprüfer von EY steigen, die die Bilanzen von Wirecard testiert hatten. Der Vorsitzende Richter kündigte eine Entscheidung für den 5. Mai 2022 an.

Druck auf Wirtschaftsprüfer wächst

Auch die Anleger ziehen vor Gericht. Ihr Zorn richtet sich gegen den langjährigen Wirecard-Wirtschaftsprüfer EY. Sie werfen dem Unternehmen vor, zu spät auf den Betrug bei Wirecard reagiert zu haben. Denn Hinweise auf Unregelmäßigkeiten und Unstimmigkeiten habe es genug gegeben, dennoch erteilten die EY-Prüfer der Bilanz des Aschheimer Zahlungsabwicklers Jahr für Jahr das ersehnte Siegel "Alles in Ordnung".

Beim Landgericht München fanden die Klagen von über 100 Wirecard-Aktionären bisher aber kein Gehör. Sie wurden abgewiesen - wohl zu Unrecht. So hat das Münchner Oberlandesgericht im Dezember in einem vorläufigen Hinweis gravierende Zweifel an den Gerichtsentscheidungen der ersten Instanz geäußert. Während das Landgericht keine Pflichtverletzung der Prüfer sah, ist das OLG der Meinung, dass die Richter sehr viel genauer hätten prüfen müssen. Damit ist der Druck auf EY deutlich gestiegen. Inzwischen haben sich Zehntausende von Wirecard-Aktionären zusammengefunden, um EY auf Schadensersatz zu verklagen. Gleich im Januar könnte es losgehen.

Karten neu gemischt

Neu gemischt wurden die Karten in dieser Sache durch die Veröffentlichung des sogenannten Wambach-Berichts im Spätherbst 2021. Dabei handelt es sich um eine Sonderprüfung, die der Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestages veranlasst hatte, um mögliche Versäumnisse der Wirtschaftsprüfer von EY zu untersuchen. Der Bericht war zwar als geheim eingestuft worden, weil EY vorgab, dass er Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse enthalte. Doch das "Handelsblatt" entschied sich trotzdem für eine Veröffentlichung.

Tatsächlich geht der Bericht detailliert auf mögliche Versäumnisse von EY bei der Prüfung der Bücher von Wirecard ein. Dabei kommt der als Sonderprüfer eingesetzte Martin Wambach zu dem Schluss, dass EY zwar frühzeitig Hinweise auf einen möglichen Betrug identifiziert habe, diesen dann aber nicht kritisch genug nachgegangen sei. Auf EY, eine der vier größten Wirtschaftsprüfer der Welt, kommen also möglicherweise Schadensersatzforderungen in Milliardenhöhe zu. Weil dies die Existenz des Unternehmens gefährden dürfte, raten Anwälte wie Klaus Nieding von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) zu einer gütlichen Einigung aller Beteiligten.

Für die Wirecard-Aktionäre würde das bedeuten, dass sie auf einen Großteil ihrer Forderungen verzichten müssten. Denn bei Wirecard selbst ist nichts mehr zu holen. Insolvenzverwalter Jaffé hat Insidern zufolge durch Verkäufe von Auslandstöchtern und anderen Vermögenswerten bisher weniger als eine Milliarde Euro eingetrieben. Dem gegenüber stehen Forderungen von 15,8 Milliarden Euro. Finanziell dürfte sich Wirecard damit für alle Beteiligten als ein Fiasko erweisen.

Über dieses Thema berichtete BR am 15. Dezember 2021 um 12:17 Uhr.