
NATO und Syrien-Konflikt Das Türkei-Dilemma der Allianz
Stand: 28.02.2020 16:54 Uhr
Die Türkei hat die NATO im Syrien-Konflikt um Unterstützung gebeten und dabei ein altes Dilemma offengelegt: Das Verteidigungsbündnis kann nicht gut mit - aber auch nicht ohne seinen Verbündeten in Ankara.
Von Helga Schmidt, ARD-Studio Brüssel
Als der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu am Donnerstagabend bei NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg anrief, wurde in dem Telefonat eines sehr schnell klar: Die Türkei erwartet die Unterstützung der Partner.
Stoltenberg tat das, was er nach den Statuten der NATO tun muss. Er berief die Botschafter der 29 NATO-Mitglieder zu einer Beratung im Nordatlantikrat ein. Das ist das höchste Entscheidungsgremium der Allianz.
Cavusoglu hatte nach Angaben Stoltenbergs sich in dem Telefonat auf Artikel 4 des NATO-Vertrags berufen. Der besagt, dass jedes Mitglied der Allianz das Recht hat, eine Beratung mit den Partnern einzuberufen - wenn "die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist".
Dass die Sicherheit der Türkei durch die Situation in Syrien bedroht ist, hatte Stoltenberg den Partnern in Ankara schon mehr als einmal bestätigt.
Türkisches Militär feuert massiv auf syrische Stellungen
tagesschau 20:00 Uhr, 28.02.2020, Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul
Solidarität versichert
Die Botschafter brauchten nicht viel mehr als eine Stunde, um sich über ihre Antwort zu verständigen. Stoltenberg, der in solchen Situationen zunächst gern viele moderierende Worte findet, versicherte bei einer Pressekonferenz nach dem Treffen die Solidarität aller Bündnispartner.
Er sprach im Namen der Allianz das Beileid für die getöteten Soldaten aus und sprach den Familien Mitgefühl aus. Er verurteilte das syrische Regime Baschar al-Assads und Russland wegen der Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung.
Dann kam Stoltenberg zum militärischen Teil: "Wir verstärken die Luftverteidigung, ein AWACS-Aufklärungsflugzeug hilft bei der Luftraumüberwachung." Außerdem bleibe es auch dabei, dass die NATO die Häfen regelmäßig kontrolliert, versicherte Stoltenberg und fügte hinzu, die NATO-Partner würden ständig überprüfen, "was sie noch tun können, um die Türkei darüber hinaus zu unterstützen".
Erdogan wollte Flugverbotszone
Kein Wort fiel zu dem eigentlichen Anliegen der Türkei. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wollte eine Flugverbotszone über dem Kriegsgebiet von Idlib. Diese Zone sollte von den NATO-Partnern überwacht werden. Offensichtlich gab es bei dem Botschaftertreffen keine Bereitschaft, die Allianz in einen solch riskanten Auftrag zu schicken.
Der Auftrag hätte bedeutet, dass die NATO Kriegspartei wird. Und ganz konkret: Dass Flugzeuge der Allianz über Idlib dem Risiko ausgesetzt wären, von syrisch-russischen Kräften abgeschossen zu werden.
Die Syrien-Politik Erdogans stellt die NATO vor ein Dilemma. Auf der einen Seite ist die Türkei immer noch ein strategisch wichtiges Mitglied der Allianz. Sie unterhält die - nach den USA - zweitgrößte Armee der NATO und leistet einen wichtigen Beitrag zum Schutz an der Südost-Flanke - in Richtung Naher und Mittlerer Osten.
Die Türkei sei das Land, so versicherte Stoltenberg heute auch wieder, das am meisten unter terroristischen Angriffen aus Syrien zu leiden habe. Stoltenberg würdigte auch die Leistung der Türkei bei der Aufnahme von Millionen Flüchtlingen.
Vorstoß in Machtvakuum
Aber die Partner erinnern sich auch an die schwierige Situation, in die sie im Oktober gerieten, als Erdogan seine Truppen in den Norden Syrien einmarschieren ließ. Viele Völkerrechtler sprachen von einem Angriffskrieg, ausgeführt durch ein NATO-Land - problematisch für eine Allianz, die sich auch als Wertegemeinschaft versteht.
Erdogan konnte in das Machtvakuum stoßen, das Trump zuvor mit seinem überraschenden Truppenabzug aus Syrien hinterlassen hatte. Beide Manöverzüge - das türkische wie das amerikanische - waren nicht mit den NATO-Partnern abgesprochen.
Dass zwei Partner ohne Rücksicht auf die Allianz ihren nationalen Kurs in Syrien verfolgten und dabei die Kurden, die vorher Partner im Kampf gegen die Islamisten in der Region waren, fallen gelassen wurden, stürzte die Allianz in eine Krise.
Forderung nach Artikel 5
Die NATO sei im Grunde hirntot, sagte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron einige Wochen später in einem Interview mit dem "Economist". Das brachte ihm zwar Rügen einiger Partner ein, an der Spitze die deutsche Bundeskanzlerin. Wenn die Mikrofone ausgeschaltet waren, sprachen viele Diplomaten aus NATO-Ländern aber von einer treffenden Analyse.
Nachdem bei syrischen Luftangriffen auf türkische Stellungen am Donnerstag 33 türkische Soldaten getötet wurden, kam wiederholt die Forderung nach einem Beistand der NATO auf, die Rede war von Artikel 5 des Nordatlantikvertrags.
Darin haben die NATO-Staaten vereinbart, dass ein bewaffneter Angriff gegen ein Mitglied als ein Angriff gegen alle Mitglieder angesehen wird und man sich dann gegenseitig unterstützt.
Stoltenberg hat heute an keinem Punkt seiner Erklärung angedeutet, dass es zu einem solchen Bündnisfall kurzfristig kommen könnte. Die einzige Tür, die er heute offen hielt, war das Versprechen, man werde regelmäßig prüfen, was die NATO noch tun kann, um die Türkei zu unterstützen.
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