
Corona-Maßnahmen in Moskau Maximal 100 Meter Gassi gehen
Stand: 30.03.2020 11:38 Uhr
Lange hat man das Coronavirus in Russland offenbar nicht ernst genommen: Getestet wurde kaum - so schien die Zahl der Infektionen zunächst niedrig. Umso drastischer wirken die Maßnahmen, die Moskau nun in Kraft setzt.
Von Ina Ruck, ARD-Studio Moskau
Nur ein paar Stunden Vorwarnung gab Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin gestern Abend. Er verkündete die Nachricht per Social Media, in Windeseile sprach sie sich herum: Ausgangssperre ab Mitternacht. Vor die Tür darf jetzt nur noch, wer den Hund Gassi führen muss (maximal 100 Meter), wer einen dringenden Arzttermin hat oder Müll rausbringt. Einkaufen geht auch noch - aber nur im nächstgelegenen Laden.
Überprüft wird das Ganze per Gesichtserkennung - ein System, auf das die Moskauer Stadtregierung stolz ist. 200.000 Kameras hängen verteilt in der Stadt. Man brüstet sich damit, schon in 200 Fällen Menschen beim Verletzen ihrer Quarantäneregeln erwischt zu haben. Auch Geodaten von Mobiltelefonen sollen eingesetzt werden.
Sobjanin hatte sich zur harten Ausgangssperre entschieden, nachdem Appelle an freiwillige Zurückhaltung wenig gefruchtet hatten. Moskau ist Russlands Corona-Epizentrum, immer schneller steigen die Zahlen.
Russland verschärt Maßnahmen mit Ausgangssperre in Moskau
tagesschau 20:00 Uhr, 30.03.2020, Ina Ruck, ARD Moskau
Einladung zum Urlaub machen
Vor ein paar Tagen erst hatte Präsident Wladimir Putin diese Woche als arbeitsfrei deklariert - ein Versuch, die Menschen zu Hause zu halten. Aber der ging gründlich schief. "Es ist jetzt wichtig, die schnelle Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Deshalb erkläre ich die kommende Woche für arbeitsfrei - unter Weiterzahlung der Gehälter."
Putin hat zwar ermahnt, verantwortungsbewusst zu handeln, an die Nächsten zu denken, aber das Erlassen von unangenehmen Verboten überließ er anderen. Er hat dem Volk eine freie Woche beschert - die Städte und Regionen müssen nun sehen, wie sie klarkommen.
Denn viele Russen hatten die freie Woche als eine Art Einladung zum Urlaub machen verstanden. Sie fuhren mit Freunden auf die Datscha, buchten kurzfristig Reisen ans Meer. Da half auch nicht mehr, dass Putins Sprecher später nachjustierte: gemeint seien nicht Feiertage, sondern es gehe darum, Kontakte zwischen den Menschen zu reduzieren.
Sotschi zieht Notbremse
Dutzende Flüge sind allein aus Moskau über das Wochenende nach Sotschi am Schwarzen Meer gestartet. Die weitaus meisten der russischen Covid-19-Infektionen wurden bislang in Moskau registriert, an diesem Wochenende dürfte das Virus wohl in viele andere Gegenden getragen worden sein.
Ähnlich wie Moskau hat auch Sotschi jetzt die Notbremse gezogen: In dieser Woche dürfen keine Betten vermietet werden, die Touristen müssen zurück nach Hause. Buchungen werden storniert - wer schon angereist ist, wird mit Charterflügen in die Heimat geschickt.
Kirche lenkt erst spät ein
In St. Petersburg traute sich der Gouverneur sogar, Kirchen zu schließen und legte sich mit der Russisch-Orthodoxen Kirche an. Die hielt es lange nicht für nötig, die Gottesdienste abzusagen. Erst gestern rief Patriarch Kirill die Gläubigen auf, lieber zu Hause zu beten. In vielen großen Kirchen, etwa in der St. Petersburger Isaakskathedrale, gab es am Abend aber schnell noch letzte große Gottesdienste.
Moskaus Bürgermeister hatte zunächst nur Parks und Restaurants schließen lassen, es gab Ausgangssperren für Menschen ab 65 und andere unpopuläre Regeln. Schülern und Studenten sperrte er kurzerhand die Monatskarten für Bus und Metro. Doch das alles scheint nicht ausgereicht zu haben. Die sozialen Medien waren voller Berichte von Partys, Grillfesten, vollen Einkaufszentren.
Wissenschaftler: Maßnahmen viel zu spät
Nicht nur die Kommunen, der Kreml selbst hätte viel früher harte Regeln einführen müssen, sagt der Ökonomie-Professor Ruben Enikolopow. Er ist einer von 14 führenden Wirtschaftswissenschaftlern, die Putins Maßnahmen in einer Erklärung kritisierten. Sie forderten schon vergangene Woche strenge Quarantäne - und massive Hilfen für die Wirtschaft.
"Es wäre richtig gewesen, wenn Putin ehrlich gesagt hätte: Es braucht eine harte Quarantäne, die Leute müssen zu Hause bleiben. Stattdessen gibt es diese freie Woche, die dann auch noch von den Betrieben bezahlt werden muss. Der Staat sagt quasi den Unternehmen, sie sollten Corona auf eigene Rechnung bekämpfen."
Denn die Unternehmen sollen, so hat Putin verfügt, trotz Geschäftsausfalls die Löhne und Gehälter weiterzahlen. Dabei balancieren viele jetzt schon am Abgrund. Der Ölpreisverfall und jetzt die Corona-Krise sind ein Doppelschlag, den viele kaum verkraften. Putin hat den Betrieben Erleichterungen angekündigt, so sollen etwa Kreditschulden gestundet werden können.
Das reiche bei Weitem nicht, sagt Enikolopow. Er und seine Kollegen fordern, schnelle, milliardenschwere Hilfen - das Land könne sich das leisten. Und es sei billiger, jetzt angeschlagene Betriebe durchzuziehen, als später ganz von vorn zu beginnen. Tatsächlich ist Russlands Reservefonds gut gefüllt. "Es ist jetzt nicht die Zeit, über einen ausbalancierten Etat nachzudenken. Europa hat das erkannt, wir noch nicht. Man muss an die Reserven, richtig viel ausgeben, sonst schlittern wir in die Katastrophe."
Wenige Tests, wenige verzeichnete Infektionen
Lange hat man, so scheint es, das Virus nicht ernst genommen in Russland. Zwar hat man die 4200 Kilometer lange Landgrenze mit China schnell geschlossen - doch getestet wurde nicht. Auch deshalb wohl verzeichnet Russland noch relativ wenige Infektionen. Mittlerweile ist die Zahl nach Angaben der "Moscow Times" auf 1836 gestiegen, neun Menschen sind an den Folgen einer Infektion gestorben.
Auch Putin hat sich erst in der vergangenen Woche das erste Mal ausführlich zum Thema Covid-19 geäußert und die Isolierstation einer Klinik besucht - in knallgelbem Ganzkörperanzug mit einer Art Tauchermaske und Spezialschuhen. Diese Bilder haben ihre Signalwirkung nicht verfehlt: Man sah immer mehr Masken in der Stadt, Leute standen stundenlang an, um den von einem Privatlabor angebotenen teuren Schnelltest zu machen.
Noch ist nicht klar, wie lange die neue Ausgangssperre in Kraft bleibt. Auch landesweit hat Russland heute die Regeln verschärft: Seit Mitternacht sind die Grenzen geschlossen.
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