Flagge Italiens und der EU

Wirtschaftsprobleme Italiens schleichende EU-Entfremdung

Stand: 22.11.2019 03:58 Uhr

Italien hat seit Jahren die niedrigste Wachstumsrate in der EU und den mit rund 2,3 Billionen Euro höchsten Schuldenstand. Lange drückte Brüssel beide Augen zu, doch der Sanierungsdruck auf den EU-Mitgründer wächst.

Er gilt in der noch amtierenden Brüsseler EU-Kommission als Verkörperung der Tiefenentspannung: Wirtschafts-und Währungskommissar Pierre Moscovici. Doch wenn es um Italien geht, macht selbst Moscovici mittlerweile Druck.

"Zwar hilft Katastrophismus nicht weiter", betonte der Wirtschaftskommissar in dieser Woche in Brüssel. Aber Italien habe erhebliche strukturelle Probleme, so Moscovici in seiner Abschiedspressekonferenz. Das beginne bei der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der italienischen Wirtschaft, so die Analyse der EU-Kommission.

Italien habe sehr von der größten Flexibilität des Juncker- Teams bei der Auslegung des Stabilitäts-und Wachstumspaktes profitiert, unterstreicht Moscovici. Im Klartext: Das Juncker-Team hat beide Augen zugedrückt. Schließlich spielt der Mitgründer der Europäischen Union eine zentrale Rolle als eine der größten Volkswirtschaften der Eurozone, unterstreicht Wirtschaftskommissar Moscovici.

Italiens große Wirtschaftsprobleme

Doch die Regierungen in Rom hätten zur Enttäuschung von Juncker die Zeit nicht genutzt, welche Brüssel ihnen gegeben hatte: zum Beispiel für eine Reformen des veralteten Arbeitsrechts oder des maroden italienischen Justizapparats.

Italien hat seit Jahren die niedrigste Wachstumsrate in der gesamten Europäischen Union, und den mit rund 2,3 Billionen Euro höchsten Schuldenstand. Jeder dritte junge Italiener hat keinen Job, jenseits der großen Städte sind sogar bis zu fünfzig Prozent der jungen Italiener arbeitslos. 300.000 junge Italiener wandern zur Zeit pro Jahr aus, so viele wie zuletzt nach dem zweiten Weltkrieg. Viele der jungen Italiener gehen nach Deutschland. Die Jüngsten haben jede Hoffnung auf eine Zukunftsperspektive in ihrem Heimatland aufgegeben. Das Pro-Kopf-Einkommen in Italien stagniert seit zwanzig Jahren.

Entfremdung statt Italexit

Die Wirtschaftsprobleme Italiens sind strukturelle Probleme, betont Wirtschaftskommissar Moscovici zum Abschied aus Brüssel. Und Korrespondent Ulrich Ladurner kam während der Recherchen zu einem Buch "Italiens Fall" zu dem Ergebnis : Italien habe sich im Unterschied zu anderen EU-Ländern bis heute nicht von der Finanzkrise 2008/9 erholt.

Auf die EU und Kommissionspräsidentin von der Leyen sieht Italien-Spezialist Ladurner nicht das Problem eines Italexit zukommen, eines Italien-Austritts aus der EU nach dem Vorbild der Briten, sondern die Gefahr einer irreversiblen Entfremdung. "Wir haben es mit einem Land zu tun, das sich innerlich abgekoppelt hat von Europa. Es gibt eine mentale und psychische Abkoppelung in Italien von Europa, und das macht mir Angst“.

Die innerliche Abkoppelung Italiens von Europa - nicht zuletzt wegen der mangelnden Solidarität bei der Aufnahme und Verteilung der Mittelmeerflüchtlinge - ist eine der größten Herausforderungen für Ursula von der Leyen.

Ralph Sina, Ralph Sina, WDR Brüssel, 22.11.2019 06:17 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 20. November 2019 um 15:00 Uhr.