Helferinnen sortieren Lebensmittelspenden.
Reportage

Inflation in Pennsylvania Selbst schießen, sparen, spenden

Stand: 11.10.2022 14:26 Uhr

In einem Monat sind Zwischenwahlen für die US-Kongresskammern. Die Einwohner Eries im "Swing State" Pennsylvania treibt vor allem ein Thema um: Wie können sie trotz rekordhoher Inflationsrate satt werden?

Die Autoschlange zieht sich über mehrere Hundert Meter. Schon mehr als eine Stunde vor Beginn der Essensausgabe sind die ersten Bedürftigen vorgefahren, um als Erstes versorgt zu werden. "Im Supermarkt kann ich mir fast nichts mehr leisten, alles viel zu teuer durch die Inflation. Diese Essensausgabe alle zwei Wochen rettet mich", erzählt Rentnerin Sue McHenry durch die heruntergelassene Seitenscheibe und lächelt dankbar, als ihr die freiwilligen Helfer der "Second Harvest Food Bank" Toastbrot, Eier, Milch und eine Tüte Äpfel in den Kofferraum laden.  

Fast zwei Millionen Menschen alleine im US-Bundesstaat Pennsylvania gelten als hungergefährdet. Die Zahl ist in den vergangenen Monaten stark gestiegen, quasi parallel zur Inflation. Bei knapp neun Prozent liegt sie mittlerweile und ist das bestimmende Wahlkampfthema bei den anstehenden Zwischenwahlen - im ganzen Land, besonders aber in den mehr oder weniger abgehängten Bezirken.

"USA vor den Zwischenwahlen": Pennsylvania

Gudrun Engel, ARD Washington, tagesthemen, tagesthemen, 11.10.2022 22:15 Uhr

Unzufrieden mit Biden

Auch Erie in West-Pennsylvania gehört mittlerweile zu den ärmsten Bezirken der gesamten Vereinigten Staaten. Am gleichnamigen See gelegen, war die Stadt in den 1950er- und 1960er-Jahren berühmt für Schiffs- und Eisenbahnbau und die Stahlindustrie. Jetzt verfallen die meisten Fabrikgebäude zu Ruinen. Schornsteine ragen auf Brachflächen in den Himmel. Überall erkennt man den Niedergang eines einst stolzen Industriestandortes: Die Stadt schrumpft konstant, von einstmals 150.000 auf jetzt noch 93.000 Einwohner.

Wer noch bleibt, fühlt sich meist abgehängt- und gibt die Schuld daran häufig der Regierung und Präsident Joe Biden. Ein klassisches Muster bei den Midterm Elections, die immer auch als Stimmungsbild darüber gelten, wie zufrieden die Amerikaner mit ihrer aktuellen Regierung sind. In der Regel wird sie abgestraft.

100 Dollar für eine Mahlzeit als Familie

Pennsylvania gilt als "Swing State", also als Bundesstaat, in dem sich die Wählerinnen und Wähler mal für einen demokratischen Kandidaten entscheiden, mal für einen Republikaner. Bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen wurde hier mehrheitlich erst für Obama, dann für Trump und schließlich knapp für Biden votiert.

Jetzt treten hier zwei schillernde Persönlichkeiten im Wahlkampf um das Senatorenamt gegeneinander an: Der linke Demokrat John Fetterman, ehemals Bürgermeister eines Stahlstandorts vor den Toren Pittsburgs, der optisch eher wie der Frontmann einer Heavy-Metal-Band wirkt und sich gerade von einem Schlaganfall erholt. Und Trump-Freund Dr. Mehmet Oz, der zwar nicht in Pennsylvania lebt, aber als ehemaliger TV-Arzt große Bekanntheit und sogar einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame erlangte, ehe er pseudowissenschaftliche und alternativmedizinische Ansichten verbreitete.

"Es wird wohl auch dieses Mal wieder knapp und spannend, wer am Ende die meisten Stimmen bekommt," erklärt Kyle Bohrer, dem die örtliche Metzgerei gehört. Ein Traditionsbetrieb, schon seit mehr als 50 Jahren in Erie ansässig. Auch er entscheide sich bei jeder Wahl neu, wo er sein Kreuzchen mache, verrät Bohrer. Und dass die Menschen immer mit dem Geldbeutel abstimmten. Der sei in diesen Zeiten eben meistens leer.

Zehn US-Dollar habe ein Pfund Steak noch vor der Inflation gekostet, jetzt pendele der Preis zwischen 22 und 24 Dollar. Heißt auch: Eine vierköpfige Familie investiert für eine Mahlzeit bis zu 100 Dollar. Seine Metzgerei bietet jetzt auch günstigeres Fleisch an. Noch läuft das Geschäft, aber Kyle Bohrer sieht schwierige Zeiten auf sich zukommen.

Auch Fleischverarbeitung wird teurer

Um sich alternativ selbst mit günstigem Fleisch zu versorgen, gehen viele Menschen in Pennsylvania zur Jagd. Mehr als eine Million Jäger sind mit Schusswaffen registriert, weitere 350.000 mit Pfeil und Bogen oder Armbrust. Sie jagen Rehe, Hirsche, Elche und Schwarzbären. Gerade hat die Jagdsaison begonnen.

Vor dem Verarbeitungsbetrieb von John Pacileo fahren jetzt jeden Abend bis zu 30 Jäger vor und laden erlegte Tiere ab. Für das Abziehen, Ausbeinen und Verarbeiten verlangt Pacileo diese Saison 137 Dollar - 40 Dollar mehr als vergangenes Jahr, auch eine Folge der hohen Inflation. "Die Leute verstehen das", sagt er. "Alles ist ja teurer geworden: Strom, Arbeitskosten, alles."  

Männer häuten und zerteilen Rehwild.

In John Pacileos Familienbetrieb zerteilen die beiden Söhne Wild, das die Jäger ihnen vorbeibringen. Auch sie hat die Inflation die Preise anheben lassen.

Das Verarbeiten eines Rehbocks geht schnell: Im Familienbetrieb Pacileo sitzt jeder Handgriff, die beiden Söhne kümmern sich um das Abziehen des Fells und das Zerteilen, John verarbeitet das Fleisch und Ehefrau Cindy verpackt und vakuumiert mit ihrer Tochter Lendenstücke, Gulasch und Hack für Burger. Auf 40 Pfund Fleisch kommt ein durchschnittlicher Rehbock. Macht also nur etwas mehr als drei Dollar pro Pfund.

"Natürlich machen wir das, um unsere Familien zu versorgen. Es ist mageres Fleisch und eine gute Proteinquelle," sagt Kevin Eyerly. Der 27-Jährige geht seit seinem zwölften Lebensjahr zur Jagd. Wildfleisch gehört für ihn also schon immer zum Speiseplan. Aber jetzt versuchen er und seine Freunde pro Saison ein Tier mehr zu schießen als üblich, um länger etwas in der Kühltruhe zu haben.

Jäger spenden Fleisch an Bedürftige

Wer großes Jagdglück hat und mehr Tiere schießt, als er selbst einfrieren und essen kann, spendet das Fleisch für Bedürftige an die Essensausgabestellen. Dort kommt es als Hackfleisch vorverarbeitet und tiefgekühlt an. Das ist der effizienteste Verteilungsweg: "Essenspenden sind normalerweise Konservendosen oder Trockenware und solche Dinge. Gute Proteinquellen wie Fleisch, besonders rotes Fleisch, sind sehr sehr selten. So sind unsere Wildfleischspenden immer sehr beliebt," berichtet Randy Ferguson von "Hunters Sharing the Harvest" - übersetzt etwa "Jäger teilen ihre Beute".

Menschen stehen vor mehreren Kisten mit Lebensmittelspenden.

Ist Biden an den Nöten vieler US-Bürger infolge der Inflation schuld - oder handelt es sich um ein globales Phänomen? Bei der Tafel in Erie hat jeder etwas anderes dazu zu sagen.

4691 Rehböcke und Rehe hat die Organisation alleine im vergangenen Jahr gespendet. Das sind umgerechnet mehr als zwei Millionen Fleischmahlzeiten für Hungrige in Pennsylvania, die darauf angewiesen sind, sich alle zwei Wochen an den Essensausgabestellen in lange Schlangen einzureihen.

Und obwohl sie alle ihre schwierige Lage eint, gehen die politischen Meinungen an diesem Nachmittag in Erie weit auseinander: Von "Joe Biden ist an allem schuld!" bis zur Ansicht, für die Inflation könne der Präsident nun wahrlich nichts, das sei ein globales Problem. Typisch Pennsylvania eben.

Diese Reportage sehen Sie heute um 22.15 Uhr in den tagesthemen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 11. Oktober 2022 um 22:15 Uhr.