Freiwillige werben im US-Bundesstaat Georgia vor den Midterms für Fahrdienste zu den Wahllokalen.
Reportage

Georgia vor den Midterms "Das sind wir unseren Vorfahren schuldig"

Stand: 01.11.2022 15:00 Uhr

Georgias verschärfte Wahlgesetze erschweren vielen die Abstimmung bei den Midterms, besonders der schwarzen Bevölkerung. Aktivisten animieren deshalb Pastoren, ihre Gemeinden zum Wählen zu mobilisieren - mit absehbar großem Erfolg.

"Geht wählen!", ruft Pastor Lewis E. Logan II. vom Podium in sein Mikrofon und reckt kämpferisch eine Faust in die Höhe. Und noch einmal:

Geht wählen! Das sind wir unseren Vorfahren schuldig, die ihr Blut vergossen haben, damit wir dieses Recht ausüben können.

Vor dem Altar in der St. Paul African Methodist Episcopal-Kirche lehnen Schilder in bunten Farben mit der gleichen Aufforderung. Die Stimmung im Gottesdienst ist freudig, die Chorsängerinnen tragen große rosa Tüllblüten und haben, unterstützt von der vierköpfigen Band, gemeinsam mit den Gottesdienstbesuchern schon ausgelassen gesungen, getanzt und Gott den Erlöser gepriesen.

USA vor den Zwischenwahlen: Erschwerte Abstimmung durch eingeschränktes Wahlrecht

Gudrun Engel, ARD Washington, zzt. Atlanta, tagesthemen, tagesthemen, 01.11.2022 22:15 Uhr

Nach der Kirche ab ins Wahllokal

Die Ansprache des Pastors ist der Höhepunkt der Messe - und seine Botschaft ist klar. Mehr als 1000 Pfarrer und Pastoren in Georgia haben sich zusammengeschlossen und einen offenen Brief an ihre Gemeinden verfasst: Das vergiftete gesellschaftliche Klima in den Vereinigten Staaten gefährde die Demokratie. Die verschärften Wahlgesetze erschwerten vielen, besonders der schwarzen Bevölkerung, den Zugang zur Wahl.

"Souls to the polls" heißt deshalb eine Aktion - übersetzt etwa "Seelen an die Urnen" -, bei der die Alten der Gemeinde im Anschluss an den Gottesdienst zum Wahllokal gefahren werden. Und so setzen sich mehrere Chorsängerinnen und der Pastor selbst nach dem Gottesdienst in ihre Autos und holen in den umliegenden Vierteln die alten, kranken oder gehbehinderten Menschen ab, die alleine nicht mehr zum Wahllokal kommen könnten. Früher war das ganz selbstverständlich. Jetzt müssen sie dafür besondere Beförderungsnachweise vorhalten.

Zwei Schwarze Männer mit Schildern, auf denen Hinweise und QR-Codes zum Wählen in Georgia stehen.

Pastor Lewis E. Logan II. ruft in seiner Predigt die Gemeinde zum Abstimmen bei den Midterm-Wahlen auf.

Wählen ist schwieriger geworden

Reine Schikane, befinden zahlreiche Bürgerrechtlerinnen und Aktivisten und beziehen sich damit auf das neue Wahlgesetz in Georgia mit dem technokratischen Titel "SB202": Damit wurde die Phase, in der man sich im Vorfeld für die Wahl registrieren konnte, halbiert. Das Zeitfenster für die Briefwahl wurde reduziert, ebenso die Anzahl der Wahllokale. Die Tage, an denen man vorab seine Stimme abgeben kann, wurden auf die Wochenenden beschränkt.

In den Warteschlangen vor den Wahllokalen - und die können in Georgia durchaus lang werden - darf kein Wasser oder Obst mehr an die Wartenden verteilt werden. Darauf steht jetzt tatsächlich bis zu einem Jahr Gefängnis. Nach Meinung der Kritiker alles Maßnahmen, um die Wahl unattraktiv und den Zugang schwieriger zu machen. 

Da es in den USA weder eine Melde- noch eine Ausweispflicht gibt, muss man sich in dem Bundesstaat, in dem man lebt, selbst aktiv für die Wahl registrieren lassen. Dafür ist in Georgia ein Ausweis, etwa ein Führerschein nötig. Viele finanzschwache Menschen oder Migrantinnen und Migranten sind mit den Registrierungsvorschriften überfordert.

Besonders Schwarze sollen überzeugt werden

Dabei haben die Schwarzen in den USA lange und hart um ihr Wahlrecht gekämpft: In der Verfassung von 1789 war das Wahlrecht ausschließlich weißen, protestantischen Männern mit Grundbesitz vorbehalten. Ab 1830 durften alle weißen Männer wählen. Und ab 1870 wurden gesetzlich auch Schwarze wahlberechtigt - theoretisch: Das Recht wurde in den Südstaaten wie Georgia immer wieder durch Erlasse und Restriktionen unterlaufen.

So wie jetzt - die Geschichte wiederhole sich, meint etwa Helen Butler, die sich mit ihrer Organisation "The People's Agenda" und einer Art Wahlaufsicht dafür einsetzt, besonders die schwarze Bevölkerung vom Wählen zu überzeugen. Die gezielte Reduzierung der Wahlberechtigten durch die Einführung vieler neuer Regeln hat in Georgia nach ihrer Ansicht den Sinn, vor allem Arme und Menschen mit Migrationshintergrund vom Gang an die Urne fernzuhalten. Denn diese wählen tendenziell die Demokraten.

Republikaner führen in Umfragen

Umfragen sehen im Moment trotzdem die Republikaner vorne - im Repräsentantenhaus und im Senat. Dort gilt Georgia als Zünglein an der Waage. Wer sich hier durchsetzen kann, sichert seiner Partei eine hauchdünne Mehrheit. Der demokratische Senator Raphael Warnock will sein Amt verteidigen. Der Baptistenpastor aus Atlanta ist dort der Pfarrer der berühmten Gemeinde von Martin Luther King.

Für die Republikaner tritt mit Herschel Walker ein beliebter ehemaliger Footballstar an, der mittlerweile allerdings fast so viele Skandale hat wie Sporttrophäen im Schrank. So werfen etwa zwei Frauen Walker vor, sie nach einer Affäre zu einer Abtreibung gezwungen zu haben - obwohl er sich jetzt lautstark gegen Schwangerschaftsabbrüche stellt.

Bislang haben bereits knapp 1,7 Millionen der insgesamt 7 Millionen Wahlberechtigten in Georgia ihre Stimme abgegeben - einer von fünf. Die Kampagne der vielen Menschenrechtsaktivisten scheint zu wirken. Beobachter rechnen mit einem riesigen Andrang am kommenden Wochenende.

Denn am eigentlichen Wahltermin unter der Woche - in den Vereinigten Staaten wird traditionell dienstags gewählt - müssen die meisten Menschen arbeiten und haben keine Zeit, wählen zu gehen. Besonders die Schwarzen nicht. Aber für sie ist es in der Heimat von Martin Luther King eine besondere Verpflichtung, ihre Stimme abzugeben. 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 01. November 2022 um 22:15 Uhr.