Haupteingang der Europäischen Zentralbank (EZB)
Analyse

EZB vor Zinserhöhung Währungshüter in der Zwickmühle

Stand: 08.09.2022 06:24 Uhr

Die Rekordinflation im Euroraum setzt die Währungshüter unter Handlungsdruck. Die EZB dürfte mit einer kräftigen Zinsanhebung reagieren. Damit riskiert sie, die angeschlagene Wirtschaft weiter abzuwürgen.

Eine Analyse von Klaus-Rainer Jackisch, HR

Die Mitarbeiter in der Discounterfiliale trauten ihren Augen kaum: Das Mischgemüse aus dem Gefrierfach, das es zum Sonderpreis gab, war innerhalb weniger Minuten ausverkauft. Bei der Konkurrenz gab es Pizza und Butter billiger - auch die innerhalb kürzester Zeit weg. Und bei vielen Baumärkten waren vergangene Woche keine Benzinkanister mehr zu bekommen. Denn vor dem Auslaufen des Tankrabatts deckten sich viele noch literweise mit dem Kraftstoff ein, um dem erwarteten Preisschub zu entgehen.

Die Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel

Die Deutschen haben Angst. Sie haben Angst vor Inflation. Und sie tun alles, um den ständig steigenden Preisen irgendwie auszuweichen - selbst wenn es bisweilen groteske Züge trägt. Die massive Teuerung ist derzeit die größte Sorge, die die Menschen hierzulande umtreibt. Sie hat damit Corona von Platz 1 verdrängt. Dies ergab eine Studie des Marktforschungsinstituts GfK: 84 Prozent der Befragten sind besorgt wegen der Preissteigerungen bei Energie, 80 Prozent wegen der Teuerung von Lebensmitteln. Die Folge: Immer mehr Menschen verlieren das Vertrauen, dass die Währungshüter die galoppierende Inflation in den Griff bekommen.

Diese Entwicklungen haben nun auch die die Alarmglocken bei der Europäischen Zentralbank (EZB) läuten lassen. Die fürchtet mittlerweile um ihren Ruf und ihre Glaubwürdigkeit. Nur so lässt sich der neue Ton erklären, den die Währungshüter anschlagen. Ausgerechnet EZB-Direktorin Isabel Schnabel, die monatelang immer wieder beschwichtigt und erklärt hatte, die Inflation sei nur ein vorübergehendes Phänomen, fand jetzt deutliche Worte.

Auf einem Symposium der US-Notenbank im amerikanischen Jackson Hole sagte sie, die Notenbanken müssten nun wirkungsvoll handeln. "Je länger die Inflation hoch bleibt, desto größer ist das Risiko, dass die Öffentlichkeit das Vertrauen in unsere Entschlossenheit und Fähigkeit verliert, Kaufkraft zu bewahren." Wenn sich die Geldpolitik nicht schnell genug verändere, seien die Folgekosten womöglich beträchtlich. Es sei deshalb notwendig, die Inflation wieder auf den Zielwert von zwei Prozent zu bringen.

Mehr als 20 Prozent Inflation in manchen Euroländern

Davon sind die Währungshüter derzeit allerdings meilenweit entfernt: Im Euroraum erreichte die Teuerung im August einen neuen Rekordwert von 9,1 Prozent. In vielen Ländern ist sie völlig aus dem Ruder gelaufen - etwa in den baltischen Staaten, wo sie seit Monaten über 20 Prozent liegt. Den höchsten Wert verzeichnet derzeit Estland mit 25,2 Prozent. In Deutschland beträgt die Inflationsrate nach europäischer Berechnungsweise 8,8 Prozent, nach deutscher Statistik 7,9 Prozent - alles ebenfalls Höchststände seit Einführung des Euro.

An den Finanzmärkten wurden die Äußerungen Schnabels so verstanden, dass die EZB nun doch mehr Tempo macht, um gegen die Teuerung vorzugehen. Das fordern auch zahlreiche EZB-Ratsmitglieder - allen voran Bundesbank-Präsident Joachim Nagel. Für immer mehr Menschen werde die Teuerung zu einer enormen Belastung. Es sei daher "dringend notwendig, dass der EZB-Rat bei seiner nächsten Sitzung entschlossen handelt, um die Inflation zu bekämpfen", so der Notenbanker. Unterstützung gibt es vor allem aus den Niederlanden und den baltischen Staaten.

Nachdem die Währungshüter die Zinswende im Juli eingeleitet hatten, erwarten Beobachter, dass der angekündigte Zinsschritt jetzt größer ausfällt als erwartet. Sie gehen von einem Anstieg um 0,75 Prozentpunkte statt der angekündigten 0,5 Prozentpunkte aus. Damit stiege der Hauptleitzins auf 1,25 Prozent. Doch selbst damit wäre das europäische Zinsniveau nur halb so hoch wie in den USA, wo die Inflation auf ähnlichen Rekordwerten steht. Viele Ökonomen fordern deshalb weitere kräftige Zinserhöhungen. So hält etwa Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer derzeit ein Zinsniveau von mindestens vier Prozent für notwendig, wenn man der rasant steigenden Inflation tatsächlich Herr werden will.

Was hohe Zinsen zur Folge haben

Ursachen für eine insgesamt zögerliche und wenig kraftvolle Geldpolitik gibt es mehrere: etwa die Sorge, zu hohe Zinsen könnten die klammen südeuropäischen Staaten erneut in Schieflage bringen. Denn die müssen durch das höhere Zinsniveau auch mehr Zinsen zahlen, wenn sie neue Schulden aufnehmen. Gravierend sind aber auch Befürchtungen, zu starke Zinserhöhungen könnten die Konjunktur weiter abwürgen. Die leidet ohnehin schon unter unterbrochenen Lieferketten, explodierenden Rohstoff- und Energiekosten und dem Zusammenbruch beim Verbrauchervertrauen. Wenn das Zinsniveau weiter deutlich steigt, könnte dies die Wirtschaft noch mehr belasten.

Steigende Zinsen führen - zumindest in der Theorie - dazu, dass Verbraucherinnen und Verbraucher mehr Geld sparen und dadurch weniger konsumieren und ausgeben. Dadurch bleiben Unternehmen auf ihren Waren sitzen und produzieren weniger. Außerdem bedeuten höhere Zinsen, dass die Unternehmen für Kredite mehr bezahlen müssen, was dazu führt, dass Innovationen oder Investitionen zurückgestellt werden. Die Folge beider Entwicklungen: Die Konjunktur schrumpft, die Wirtschaft gleitet in eine Rezession, die Arbeitslosigkeit steigt.

Wieviel kann die Notenbank noch bewirken?

Die EZB muss sich also zwischen zwei Übeln entscheiden: Agiert sie nicht entschlossen genug gegen die hohen Preise, verliert sie das Vertrauen der Bevölkerung. Das ist aber existentiell: Denn wie jede Währung funktioniert auch der Euro nur, wenn die Menschen Vertrauen in das Konstrukt haben und davon ausgehen können, dass die Notenbank dafür sorgt, dass die Kaufkraft des Geldes auch bewahrt bleibt. Handelt die EZB entgegen zu stark, schwächt sie die Wirtschaft. Auch das könnte massive Folgen für die Bevölkerung haben, weil eine schrumpfende Konjunktur in der Regel auch zu einem schrumpfenden Arbeitsmarkt führt.

Hinzu kommt, dass die EZB ohnehin keine Wunder bewirken kann. Denn auf viele Faktoren, die die Inflation antreiben, hat sie keinen Einfluss. Dazu gehört der Krieg gegen die Ukraine, der die Energie verteuert, die durch Corona gestörten Lieferketten, die Transport und Rohstoffe teurer machen, aber auch die Dekarbonisierung, die nur durch gewaltige Kosten zu bewerkstelligen ist und damit ebenfalls die Inflation antreibt.

Im Kern bedeutet dies: die Inflation ist gekommen, um zu bleiben. Niedrige Teuerungsraten von zwei Prozent oder weniger gehören erst einmal der Vergangenheit hat. Aber mit den Instrumenten, die sie hat, kann die EZB das Gesamtniveau der Teuerung zumindest dämpfen - dies erwarten Verbraucherinnen und Verbraucher und letztendlich auch Unternehmen. Vieles deutet darauf hin, dass die Währungshüter die Zeichen erkannt haben.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 08. September 2022 um 07:41 Uhr.