Bundesadler und Schriftzug am Gebäude des Bundesnachrichtendienstes.
exklusiv

Ex-BND-Mitarbeiter Der mutmaßliche Spion schweigt

Stand: 01.03.2023 17:00 Uhr

Verarmungsangst als Motiv, Kontaktaufbau zum FSB - Recherchen von Kontraste, dem ARD-Hauptstadtstudio und der "Zeit" zeigen ein umfassendes Bild des mutmaßlichen BND-Spions Carsten L. -  und offenbaren Mängel bei dessen Sicherheitsüberprüfung.

Von Michael Götschenberg, ARD-Hauptstadtstudio und Georg Heil, RBB

Es begann mit einer Lüge. Als Carsten L. 2007 von der Bundeswehr zum Bundesnachrichtendienst gewechselt ist, musste er sich der üblichen Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Alles, was in irgendeiner Weise sicherheitsrelevant sein kann, muss dabei auf den Tisch. Carsten L. verschwieg dabei, dass er wegen Trunkenheit am Steuer und wegen Beamtenbeleidigung Anfang der 1990er-Jahre zu Geldstrafen verurteilt worden und zwei Mal gegen ihn wegen Körperverletzung ermittelt worden war.

Im BND machte L. über Jahre hinweg aber offenbar einen guten Job. Er fing in der Technischen Aufklärung an, dem Bereich, der für Kommunikationsüberwachung zuständig ist. Dort wurde Carsten L. nach Informationen von Kontraste, ARD-Hauptstadtstudio und der "Zeit" zu einer zentralen Figur. Er hatte die Berechtigung, auf Informationen der höchsten Einstufungskategorie "streng geheim" zuzugreifen. Er durfte eine Waffe tragen und hatte einen Diplomatenpass. Bei Kollegen galt er als kompetent und als guter Vorgesetzter, der sich bei vielen großer Beliebtheit erfreute, und dem sich offenbar einige Mitarbeiter zu besonderer persönlicher Loyalität verpflichtet sahen. Es war ein Umstand, den L. geschickt für seinen Verrat auszunutzen wusste.

Im Zuge einer routinemäßigen Sicherheitsüberprüfung beim BND, die 2022 nach vier Jahren abgeschlossen wurde, bezeichneten ihn Freunde von ihm als "sehr national" und "sehr, sehr konservativ", aber innerhalb des demokratischen Spektrums. Einer der Freunde hatte aber seit mehr als zwei Jahren keinen Kontakt mehr zu L.

Bei der Bundeswehr ermittelte der Militärische Abschirmdienst im Jahr 2006 nach den Recherchen wegen Rechtsextremismusverdachts gegen Carsten L. Der Verdacht wurde damals jedoch ausgeräumt. Laut einem Bericht des "Spiegel" hatte L. zudem im BND-Kollegenkreis darüber gesprochen, man solle Flüchtlinge standrechtlich erschießen. Hinweise auf eine möglicherweise problematische politische Gesinnung gab es demnach genug, doch der BND ging ihnen offenbar nicht nach.

Verarmungsängste

Im Zuge der Corona-Pandemie scheint Carsten L. laut den Recherchen irrationale Ängste entwickelt zu haben: Er glaubte an eine drohende Hyperinflation, die dazu führen würde, dass er seine Familie nicht mehr ernähren könne. Geldgier aus Verarmungsangst scheint ein Motiv für seinen Verrat gewesen zu sein, ein weiteres mögliches Motiv: Frust. L. war sehr unzufrieden über eine Reorganisation des BND, in deren Rahmen er gegen seinen Willen von Bayern nach Berlin versetzt worden war.

Im Zuge der Recherchen konnte auch rekonstruiert werden, wie L. in Kontakt mit dem russischen Geheimdienst FSB kam. Eine Rolle dabei spielt Reno S., ein AfD-Funktionär in L.s Heimatort Weilheim und Hauptfeldwebel der Bundeswehr. Die Beiden kannten sich über ihre Kinder. Neben der Bundeswehr-Vergangenheit einte sie offenbar auch ihre politische Haltung. Carsten L. hatte 2015 und 2016 jeweils 100 Euro an die AfD gespendet.

Reno S. wiederum war durch die Bundeswehr mit Arthur E. bekannt. E. sitzt derzeit wie Carsten L. in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, den Kontakt zwischen Carsten L. und dem FSB angebahnt und die von L. verratenen Informationen an den FSB als Kurier übermittelt zu haben. Der gebürtige Russe Arthur E. kam als Kleinkind nach Deutschland. Später verpflichtete er sich für zwölf Jahre bei der Bundeswehr. 2015 verließ er die Truppe jedoch vorzeitig und unfreiwillig. E. hatte sich unerlaubt von der Truppe entfernt und war nach Russland gereist, um dort in den Edelsteinhandel einzusteigen. Es folgte die Entlassung aus der Bundeswehr. Anschließend zog Arthur E. nach Informationen von Kontraste, ARD-Hauptstadtstudio und "Zeit" nach Moskau, wo er rund ein Jahr im Luxus-Hotel Ritz-Carlton gelebt haben soll.

Arthur E. lernt russischen Oligarchen kennen

In Moskau lernte E. den reichen Russen Visa M. kennen. Der in Tschetschenien geborene M. soll sein Vermögen als Produzent von Kindernahrung sowie mit Bergbau in Afrika gemacht haben. Die Bekanntschaft mit ihm war für Arthur E. lukrativ: E. erwarb Anteile an Minen und stieg in den Handel mit Rohstoffen ein.

BND-Mann Carsten L. lernte Arthur E. über Reno S. bei einem Grillfest am Himmelfahrtstag 2021 in Weilheim kennen. Auf Kontraste-Anfrage bestätigte Reno S., beide Männer zu kennen. Dabei soll Carsten L. sich als BND-Mitarbeiter zu erkennen gegeben haben. Das veranlasste E., sich im August 2022 mit L. in Verbindung zu setzen: Er fragte L., ob der über den BND dabei helfen könne, eine Aufenthaltsgenehmigung für Visa M. in Deutschland zu organisieren, da dessen Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen sei. L. wiederum entwickelte dabei die Idee, über Visa M. Anteile an einer Kobaltmine in Sierra Leone zu erwerben.

Der Verrat

Bei einem Treffen von L. und Visa M. im September vergangenen Jahres am Starnberger See eröffnete der Russe dem BND-Mann dann offenbar, dass er über Kontakte zum russischen Geheimdienst verfügt. Carsten L. verriet daraufhin dem FSB Informationen aus einer laufenden Operation des BND, die der deutsche Dienst gemeinsam mit einem Partnerdienst betrieb. Ziel der Operation war die Ausforschung einer Kommunikationsstruktur, die wertvolle Informationen über das militärische Vorgehen der Russen im Krieg gegen die Ukraine geliefert haben dürfte.

Erstmalig verabredete sich der BND-Mann am 12. September 2022 in Pullach in direkter Nähe des BND mit Arthur E., um ihm Material für die Russen zu übergeben. Ein zweites Treffen folgte am 23. September. Arthur E. flog mit den Dokumenten dann via Istanbul nach Moskau, um sie dort zwei FSB-Agenten mit Decknamen "Pavel" und "Gassan" zu übergeben. Am 4. Oktober kam es zu einem erneuten Treffen von Carsten L. und Arthur E., diesmal in Berlin in der Nähe des BND-Standorts am Gardeschützenweg, wo E. Dokumente abfotografierte. Immerhin scheint L. das Material so bearbeitet zu haben, dass er Namen aus den Dokumenten entfernte.

Als Arthur E. wenige Tage später aus Moskau zurückkehrte, wurde er von einem BND-Mann, Dr. S. am Flughafen München erwartet, der ihn durch die Einreisekontrollen schleuste. E. hatte nämlich einen Umschlag für L. dabei - ein erster Agentenlohn der Russen.

Arthur E. war BND-Quelle

Drei Mal soll E. nach Russland gereist sein, insgesamt soll er rund 400.000 Euro Agentenlohn für Carsten L. entgegengenommen haben. Carsten L. hatte seinen Kollegen Dr. S. offenbar manipuliert, die Schleusung vorzunehmen. Mit Hilfe der Schleusung konnte L. ausschließen, dass bei E.s Einreise die großen Summen Bargeld gefunden werden. Zuvor hatte er einen weiteren BND-Kollegen, einen Quellenführer, dazu gebracht, Arthur E. als BND-Quelle aufzunehmen, mit dem Hinweis auf seine guten Kontakte in Afrika. Eine weitere BND-Kollegin verleitete L. dazu, ihm Material zur Verfügung zu stellen, dass er dem FSB übermittelte - ohne dass sie etwas von der Spionage gewusst hatte.

Schließlich scheint L. aber den Entschluss gefasst zu haben, sich aus der Abhängigkeit des FSB befreien zu wollen, indem er lediglich wertloses Material lieferte. Bis heute soll Carsten L., der kurz vor Weihnachten festgenommen worden war, schweigen. Auf Anfrage, welche Konsequenzen der BND aus der Spionage-Affäre ziehen wird, teilte der Dienst Kontraste und dem ARD-Hauptstadtstudio mit, dass neben den Ermittlungen auch die interne Revision des BND mit dem Fall befasst sei. "Alle Aspekte des Falles werden einer selbstkritischen Prüfung unterzogen", so der BND.