
Rechtsstaatlichkeit Polen Die Hängepartie von Richter Tuleya
Eine Disziplinarkammer soll Polens Gerichte auf Linie bringen. Unabhängige Richter erkennen diese Kammer aber nicht an, müssen aber um ihren Job fürchten - das setzt Richter wie Igor Tuleya einer großen Belastung aus.
Wieder so ein Tag. Igor Tuleya weiß nicht, wie es für ihn persönlich weitergeht. Im Juni hatte die umstrittene Disziplinarkammer Polens entschieden, dass er seine Immunität als Richter behält. Doch die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein. Vor drei Wochen wurde die fällige Entscheidung erstmals verschoben, heute Vormittag dann erneut.
Einer der Richter befinde sich in Corona-Quarantäne, heißt es offiziell. Für Tuleya ist diese Hängepartie eine "große psychische Belastung", sagt er im Gespräch mit der ARD, aber sie gebe ihm auch "ein wenig Hoffnung".
Normale Arbeitstage kennt Richter Tuleya schon lange nicht mehr. Nervosität ist seine stärkste Empfindung seit Monaten, denn es geht bei der Immunitäts-Entscheidung auch darum, ob er sein Amt als Richter behält. Unschöne Gefühle für ihn, denn "mit dem Gericht bin ich seit 26 Jahren verbunden".

Seit 26 Jahren Richter: Igor Tuleya muss eine mögliche Absetzung befürchten.
Widerstand gegen Justizreform
Igor Tuleya ist ein streitbarer Richter. Als die nationalkonservative PiS-Regierung vor etwa fünf Jahren mit ihrer umstrittenen Justizreform in Polen begann, fürchtete er von Anfang an um die Unabhängigkeit der Justiz. Er und einige andere Richter, wie die Vorsitzende des Obersten Gerichts, Malgorzata Gersdorf, wurden dabei zu bekannten Gesichtern der Protestbewegung.
Die Europäische Union leitete wegen der Justizreform gegen Polen gleich mehrere Verfahren wegen Verstoßes gegen die Rechtstaatlichkeit ein. Bisher ohne sichtbaren Erfolg. Die Regierung beharrt auf dem Umbau des Justizapparats.
Umstrittene Disziplinarkammer geht gegen Richter vor.
Besonders umstrittener Bestandteil dieser Justizreform ist die Gründung einer neuen sogenannten Disziplinarkammer. Tuleya erkennt sie nicht an, weil sie "kein unabhängiges Gericht mit selbstständigen Richtern ist. Die Personen dieser Kammer wurden von Politikern ernannt."
So konnte die PiS-Regierung vor allem ihre Wunschkandidaten für dieses juristische Kontrollorgan durchsetzen. Und nun geht diese Kammer regelmäßig gegen kritische, unliebsame Richter vor.
Unerwünschte Öffentlichkeit
Tuleya geriet in ihr Visier, weil er bei einem Prozess Medienbeobachter zuließ. Rechtswidrig, meint die Kammer und will ihm deshalb die Immunität entziehen. Das wiederum könnte ihn nicht nur den Job kosten, sondern auch weitere Verfolgung nach sich ziehen.
Tuleya dagegen sieht sich in seiner Haltung bestärkt durch eine einstweilige Anordnung des Europäischen Gerichtshofs, derzufolge die Arbeit der Disziplinarkammer sofort einzustellen ist.
Symbolfigur Igor Tuleya
Mehrfach wurde die Entscheidung der Disziplinarkammer zur Immunität Tuleyas schon verschoben. Jedesmal gab es Protestaktionen, so auch vor zwei Wochen. Auf den Transparenten und Plakaten prangte überall der Name und das Bild Tuleyas. Er wurde zur Symbolfigur der Protest-Bewegung.
Neben den Demonstranten unterstützt ihn auch die unabhängige und liberale Richtervereinigung "Iustitia". Ihr Vorsitzender Krystian Markiewicz protestiert, "weil wir in Polen die unabhängigen Gerichte aufrecht erhalten wollen. Wir wollen, dass in diesen Gerichten solche Richter wie Igor Tuleya sind, der den Mut hat ein polnischer Richter und ein europäischer Richter zu sein."
Viele Polinnen und Polen machen sich ernste Sorgen um die politische Zukunft ihres Landes. Die Demonstrantin Iwona Emten findet, dass "das politische System systematisch seit fünf Jahren zerstört wird. Es gibt noch freie Gerichte und freie Medien. Wenn diese beiden Bereiche jetzt auch noch zerstört werden, wird es das Ende sein".
EU-Geld für Rechtsstaatlichkeit?
Der Kampf um Rechtsstaatlichkeit wird in Polen von Richtern wie Igor Tuleya geführt. Selbst wenn er sein Amt verlieren sollte, werde er weitermachen, sagt er im Interview.
Zugleich verfolgen die kritischen Richter Polens mit großer Aufmerksamkeit die Bemühungen innerhalb der EU, Finanzleistungen der Union auf die eine oder andere Weise an die Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen. Dabei könnte es theoretisch auch um Landwirtschafts- oder Corona-Hilfen gehen - was möglicherweise auch Polen treffen würde. Die Regierung in Warschau wehrt sich zusammen mit Ungarn vehement dagegen und spricht von politischer Erpressung.