Kinder im Flüchtlinglager Moria
Reportage

Flüchtlingskinder auf Lesbos Die verlorene Generation

Stand: 05.08.2020 10:22 Uhr

In den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln wächst eine Generation Kinder ohne jede Schulbildung heran. Und mit der Corona-Krise ist alles noch schlimmer geworden.

Die Flüchtlinge in Moria fühlen sich wie im Gefängnis. Seit fünf Monaten, seit März, dürfen sie das Lager nicht verlassen, denn für die Flüchtlingslager auf den Inseln gilt nach wie vor die Corona-Ausgangssperre. Offiziell, um die Flüchtlinge vor dem Virus zu schützen. Aber die Menschen im Lager fühlen sich nun völlig ausgegrenzt vom Rest der Welt.

"Ich bitte die Europäische Union"

Per Video-Botschaft schickt ein Vater aus Afghanistan seinen Hilferuf an die Welt. Er sitzt in seinem Zelt im Lager Moria, neben ihm hocken seine beiden Söhne im Kindergartenalter und schauen verschüchtert in die Kamera. Der Vater sagt, seinen Söhnen werde die Zukunft gestohlen:

Ich wurde während des Krieges geboren und ich bin im Krieg aufgewachsen. Meine Kinder wurden auch während des Krieges geboren, aber ich möchte nicht, dass sie auch im Krieg aufwachsen und womöglich zu Extremisten werden. Ich möchte, dass meine Kinder studieren. Deshalb bin ich hier. Ich bitte die Europäische Union: Nehmt uns als Flüchtlinge auf, damit meine Kinder hier studieren können und damit sie sich gut in die Gesellschaft einbringen können.

Ein Lager wie ein Gefängnis

Vor der Corona-Ausgangssperre, also noch Ende Februar, Anfang März, konnten sie wenigstens mal für ein paar Stunden raus aus dem Lager. Mal auf einen Spielplatz gehen oder auch eines der Begegnungszentren von Hilfsorganisationen besuchen, wo sich Freiwillige aus aller Welt um Kinder kümmern, wie etwa direkt neben dem Lager auf der Insel Samos die Samos Volunteers:

"Wir basteln zusammen, wir singen zusammen. Wir machen auch manchmal kleine Lernspiele," erzählte Anfang des Jahres Lavinia Frank von der Hilfs-Organisation Samos Volonteers.

Luftaufnahme vom Flüchtlingslager Moria

Moria: Eine Stadt mit 14.000 Menschen

Ein paar Stunden Abwechslung

Das alles sei aber informell. Viele der Kinder müssten zum Kindergarten oder in eine Schule gehen - die es aber nicht gäbe: "Das heißt, wir versuchen, das Ganze so ein bisschen aufzufangen, indem wir eine Beschäftigung geben," sagt sie.

Wenigstens für ein paar Stunden Abwechslung für die Kinder, wenigstens für ein paar Stunden so etwas wie Kindergarten oder Grundschule. Ältere Kinder besuchten Sprachkurse in Englisch und Griechisch. Mit der Corona-Ausgangssperre im März war damit Schluss.

Arbeit statt Schule

Aber selbst damals schon erreichten solche Angebote nur einen Teil der Kinder in den Lagern. Andere, wie Ahmed aus Syrien, waren nie bei einem solchen Kurs: "Die Kurse sind immer morgens. Dann muss ich immer anstehen für das Frühstück für meine kleinen Geschwister", sagt er. Und das dauere oft eine Stunde oder länger.

Wenn Ahmed das Frühstück gebracht hatte, musste er bald schon fürs Mittagessen anstehen. Der Junge stammt aus Syrien. Bevor er mit seinen Eltern und Geschwistern auf die griechische Insel kam, hatten sie sich zwei Jahre lang in der Türkei durchgeschlagen. Dort hätte Ahmed zur Schule gehen können, zumindest theoretisch. "Ich konnte aber nicht, ich musste arbeiten und ein paar Lira dazu verdienen". Damals schon, als Elfjähriger.

"Fehler im System"

Es hätte aber sowieso keine Rolle gespielt: "Wir hatten kein Geld für Stifte, für Papier und Schulhefte", sagt Ahmed auf Türkisch. Immerhin, er hat ein wenig Türkisch gelernt. Aber Ahmed hat seit Jahren keine Schule besucht. Auch hier in den Lagern, vor denen die Flagge der EU weht, gibt es keine Schule für die vielen tausend Kinder.

"Der Fehler ist im System eingebaut", kritisiert Apostolos Veizis von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Weder gab es jemals Schulen innerhalb der Lager. Noch durften die Kinder aus dem Lager in die öffentlichen Schulen gehen, die es neben dem Lager Moria auf Lesbos und auch auf allen anderen Inseln gibt.

Ein Kind sitzt hinter einem Zaun im Flüchtlinglager Moria

Die Flüchtlingskinder in Moria dürfen seit Monaten das Lager nicht verlassen.

Psychische Folgen für die Kinder

Leider, wie Apostolos Veizis betont: "Die Schulen standen diesen Kindern nicht offen, weil man davon ausging, dass diese Kinder ja nur vorübergehend hier seien." Außerdem hätten sie ja einen besonderen Unterricht gebraucht: "Es gab also immer irgendwelche Ausreden und die Kinder von Moria sind niemals zur Schule gegangen."

Mit schrecklichen Folgen, vor allem für die Psyche der Kinder. Apostolos Veizis und seine Kollegen haben viele erkrankte Kinder in der Feldklinik von Ärzte ohne Grenzen in Moria behandelt:

Die Menschen in den Lagern verlieren die Hoffnung, jeden Tag ein Stück mehr. Und die Kinder verlieren nicht nur die Hoffnung, sie verlieren ihre Lebensfreude. Das Trauma, das sie durchlebt haben, geht immer weiter und setzt sich in ihnen fest. Das geht so weit, dass sie sich selbst gar nicht mehr als Kinder ansehen.

Omid Alizada ist einer der 14.000 Flüchtlinge im Lager Moria. Er kam im vergangenen November an, mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn, der jetzt eigentlich bald eingeschult werden müsste. Stattdessen hockt die Familie hinterm Zaun des Elendslagers Moria und fühlt sich vergessen vom Rest der Welt: Moria sei ein vergessener Ort und die Menschen vergessene Menschen, klagt Omid Alizada auf Englisch. Die Kinder, die weder Spielplatz, Kindergarten noch Schule kennen, litten besonders darunter.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 13. März 2013 um 14:55 Uhr.