
Genua nach dem Brückeneinsturz "Mir fehlt ein Stück meiner Stadt"
Stand: 14.09.2018 12:14 Uhr
Einen Monat nach dem Brückeneinsturz von Genua prägt die Lücke den Alltag der Stadt. Viele Menschen tragen das mit Wehmut, andere mit wachsender Ungeduld.
Von Jan-Christoph Kitzler, ARD-Studio Rom
Auch einen Monat nach der Katastrophe können es die Menschen aus der Via Porro noch immer nicht fassen: Still ist es, die Straße wurde gesperrt. Und oben, wo früher der Autobahnverkehr toste, klafft eine große Lücke, wie eine offene Wunde.
Mit Giusy Chiantia geht es so nah heran, wie es eben geht. In ihre Wohnung darf sie nicht, wie die anderen 253 Familien, für die es zu gefährlich ist. Noch immer könnten Teile der restlichen Brücke abstürzen.
Doch je näher Chiantia ihrer Wohnung kommt, desto schwerer wird der Gang. Sie zeigt auf die Stelle, von der sie immer in den Garten gegangen sei. Die Therme, die Klimaanlage, die Fliesen, alles noch zu sehen. "Das war ein wirklich schöner Garten", seufzt sie.
Treffen in Zelten
Ob sie je wieder in ihre Wohnung kann, ist ungewiss. Auch deshalb trifft sie sich mit ihren Nachbarn jeden Tag in den Zelten am Ende der Straße. Auch Giuseppe Rodinò ist dabei. Seit 38 Jahren wohnt er hier, er war in seiner Wohnung, als die Brücke einstürzte, aber hat alles eigentlich ganz gut überstanden. Ein paar Mal war er bei einem Psychologen. Er leidet unter der Unsicherheit, beklagt den "Wartestand".
Natürlich, sagt er, hätten seine Frau und er "in der Tragödie" immer noch Glück gehabt, denn sie seien bei ihrer Tochter untergekommen. Eine angenehme Wohnung, aber mit 20 Kilometer Entfernung weit weg. "Wir kommen von hier nicht los", sagt Rodinò. Jetzt begleitet er seine Frau morgens zur Arbeit und erst spät abends geht es zurück. Denn, sagt er, "wir wollen hier zusammen mit den anderen sein".


Die Ungeduld des Bürgermeisters
Wen man auch trifft in Genua in diesen Tagen: Der Schock sitzt tief. Stefano Balleari ist zweiter Bürgermeister, zuständig für den Verkehr in der Hauptstadt Liguriens und seit einem Monat im Dauereinsatz. Viele sagen in Genua: Die Behörden hätten schnell gehandelt, gut auf die Katastrophe reagiert.
Balleari freut dieses Lob, abgehärtet ist er nicht. Er muss schlucken, wenn man ihn fragt, wie es ihm geht: "Ich kann nicht anders, als berührt zu sein. Das ist krass, irgendwie unwirklich." Jeden Tag komme er an der Unglücksstelle vorbei, weil er sehen wolle, wie der Verkehr funktioniert. Und was er dann sehe, scheine ihm "unglaublich". Der 60-Jährige erinnert sich: Als die Brücke eingeweiht wurde, war er neun. "Für mich war sie immer da - und jetzt fehlt mir ein Stück von meiner Stadt."
Die Nöte des Reeders
Ignazio Messina ist ein Macher, einer der wichtigsten Unternehmer in Genua. Acht Schiffe gehören ihm und ein Terminal im Hafen, bis zu 20 Schiffe sind weltweit für seine Reederei unterwegs. Dabei transportiert er 40 Prozent seiner Güter eigentlich per Bahn. 1500 Güterzüge hat sein Unternehmen im Jahr von Genua losgeschickt. Zurzeit geht das nicht. Denn die Morandi-Brücke ist auf die Gleise gefallen.
Seitdem kann er seine Güter ausschließlich per Lkw transportieren, und das koste ihn viel Geld. Vorerst trage er die Kosten selbst, schließlich solle der Hafen der Stadt wettbewerbsfähig bleiben. Einen bis eineinhalb Monate könne man das so machen, schätzt er und hofft, dass dann die Bahngleise wieder freigeräumt sind. Und dass es dann eine Entschädigung für die Mehrausgaben gibt.
Dann sagt er noch, dass er natürlich gern hintenansteht, dass erst die kommen, die ihre Wohnung verloren haben, die Unternehmen unter der Brücke und alle anderen. Und doch: Die Situation ist für sein Unternehmen mit 800 Angestellten alles andere als einfach. Vielleicht können die Züge im Oktober wieder fahren, so genau weiß das keiner.
"Zuerst die Brücke"
Giovanni Toti ist ein ungeduldiger Mensch. Er ist Präsident der Region Ligurien und jetzt auch noch Sonderkommissar im Ausnahmezustand. Er ärgert sich über die Spielchen in Rom. Genua brauche schnell eine neue Brücke, sagt er. Das einzige, was ihn und die Genuer interessiere, sei, dass keine Zeit vertan werde und alle Bauarbeiten begännen, zuerst die der Brücke. "Aber die qualvollen Mechanismen der Politik oder der Propaganda akzeptieren wir Bürger von Genua und Ligurien nicht. Zuerst die Brücke."
Doch wann die kommt? Bisher sind noch nicht einmal die Trümmer weggeräumt. Auch der Abriss der Reste der Morandi-Brücke, die noch stehen, wird kompliziert. Immerhin: Stararchitekt Renzo Piano will seiner Stadt eine neue Brücke bauen. Aufwendige Ausschreibungen will die Regierung umgehen, weil das ein Notfall ist. Aber viele in Genua sind skeptisch, auch weil die Regierung in Rom in dieser Krise nicht immer eine gute Figur abgegeben hat.
Verstopfte Straßen
Es sind nicht nur die Anwohner, die jetzt eine harte Zeit vor sich haben, für die jeder Monat zählt. Früher fuhren auf den Straßen unter der Brücke rund 15.000 Fahrzeuge am Tag, jetzt sind es 40.000. Und wenn nächste Woche die Schule beginnt, vielleicht noch mehr. Darunter auch der Lkw von Paolo Dima, der hier schon lange unterwegs ist. Zehn-, zwölfmal am Tag seien sie hier vorbeigefahren. Dass die Brücke eingestürzte, als sie nicht da waren - Glück. Er fühle sich wie einer, dem ein Wunder geschehen ist.
Überlebt hat er vielleicht nur, weil er am 14. August etwas früher von der Autobahn abgefahren ist als sonst. So hat jeder in Genua seine Geschichte von der Morandi-Brücke, sein Trauma zu verarbeiten. Am Ende der Via Porro wollen sie weiter ausharren. Bis sie wieder in ihre Wohnungen können. Und sei es auch nur, um die Dinge herauszuholen, die ihnen am Herzen liegen.
Genua - Gedenken einen Monat nach dem Einsturz der Morandi-Brücke
Jan-Christoph Kitzler, ARD Rom
14.09.2018 11:43 Uhr