Syrische Vertriebene gehen durch das Wohndorf Musiad (Türkei)
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Syrische Flüchtlinge in der Türkei Tägliche Angst vor Abschiebung

Stand: 28.09.2023 06:01 Uhr

In der Türkei berichten Flüchtlinge von immer größeren Anfeindungen bis hin zu willkürlichen Festnahmen durch die türkische Polizei und Abschiebungen. Das wiederum verstärkt auch die Zahl derer, die nach Europa wollen.

Wenn Mara in Istanbul aus dem Haus geht, dann hat die Syrerin nicht nur Bauchschmerzen, sondern seit einiger Zeit richtige Angst. Vor mehr als fünf Jahren kam sie mit ihrer Familie in die Türkei. Sie ist offiziell als Flüchtling anerkannt.

Doch seit einiger Zeit fühlt sie sich nicht mehr sicher. "Ich habe das Gefühl, dass sie jeden Tag irgendwelche neuen Regeln und Schikanen für uns Flüchtlinge aufstellen. Aber das Schlimmste ist: Sie machen uns ganz offen Angst, indem sie uns mit Abschiebungen nach Syrien drohen."

Leben in der Fremde

Mara, Ende 20, heißt eigentlich anders, hat aber große Sorge, Probleme mit den türkischen Behörden zu bekommen, wenn sie hier ihren echten Namen nennt. Sie arbeitet als Übersetzerin, studiert hat sie Physik, doch ihr syrischer Abschluss wurde nicht anerkannt. Dennoch baute sie sich in der Türkei ein Leben in der Fremde auf, fühlte sich akzeptiert - anfangs.

Denn mittlerweile schlage ihr offener Hass entgegen, sagt sie. "Vor zwei Tagen lief ich mit einer Freundin die Straße entlang. Wir unterhielten uns auf Arabisch. Plötzlich kam eine ältere Frau auf uns zu und rief: 'Ihr Hunde, geht endlich zurück in euer Land!'"

Hetze gegen Geflüchtete

Dass Rassismus gegen Syrer und andere Flüchtlinge aus der Region, wie dem Iran oder Afghanistan, in der Türkei in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen hat, beobachtet auch Piril Ercoban vom Verein "Mülteci Der", einer türkischen Flüchtlingsinitiative.

"Im vergangenen Wahlkampf wurden Flüchtlinge zu einem Instrument der Innenpolitik", sagt sie. "In so vielen Bereichen ist man sich in der Türkei nicht einig, aber was die negative Sicht auf Flüchtlinge angeht, herrscht Einigkeit."

So hetzte auch der vermeintlich sozialdemokratische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu immer wieder gegen Syrer, sprach von mehr als zehn Millionen Geflüchteten im Land - Zahlen fernab der Realität.

Großangelegte Rückführungsmaßnahmen

Das Bündnis um Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, ohnehin rechts-konservativ, stieg auf den Anti-Migrations-Zug auf und kündigte großangelegte Rückführungsmaßnahmen an. Dieses Wahlversprechen scheint nun in Gang gesetzt.

Mara erzählt, in ihrem Stadtviertel stünden an manchen Tagen an jeder Ecke Polizisten auf der Suche nach Syrern, die illegal im Land sind, oder in einer anderen Stadt in der Türkei gemeldet. "Sie behandeln uns wie Kriminelle", klagt Mara.

Flucht weiter nach Europa

Der türkische Innenminister verkündete Mitte dieser Woche neue Zahlen, die die türkische Bevölkerung beruhigen sollen, Syrer wie Mara dagegen in Angst und Schrecken versetzen. In den vergangenen vier Monaten seien mehr als 105.000 Menschen verschiedenster Nationalitäten ohne gültigen Aufenthalt des Landes verwiesen worden.

Mara hat zwar einen gültigen Aufenthalt, kennt aber viele Geschichten von Personen, bei denen das keine Rolle gespielt habe und die dennoch festgenommen worden und in Abschiebehaft genommen worden seien.

Eine Freundin habe diesem Druck und den Anfeindungen nicht mehr standgehalten und die Türkei vor einiger Zeit verlassen. "Sie hat alles zurückgelassen und hat sich in die EU aufgemacht", erzählt Mara. Seitdem habe sie nichts mehr von ihr gehört. Sie wisse nicht einmal, ob die Freundin noch lebe.

Milliardenhilfen für Aufnahme

Ein Blick auf die offiziellen Zahlen der türkischen Regierung zeigt: Die Zahl der registrierten syrischen Flüchtlinge in der Türkei nimmt seit einiger Zeit immer weiter ab. Waren es im März 2020 noch rund 3,6 Millionen, ist der letzte Stand von September 2023 bei unter 3,3 Millionen - das ist der tiefste Stand seit sieben Jahren.

Damals zeigte das im Frühjahr 2016 geschlossene EU-Türkei-Abkommen Wirkung: Die EU versprach Milliardenhilfen, im Gegenzug verpflichtete sich die Türkei, Fluchtrouten abzuriegeln und die Bürgerkriegsflüchtlinge zu versorgen. Beide Seiten halten sich schon seit mehr als drei Jahren nicht mehr an bestimmte Vereinbarungen.

Hass und Diskriminierung

Piril Ercoban vom Flüchtlingsverein erklärt, die türkische Regierung verwehre syrischen Flüchtlingen seit Sommer 2022 die Anerkennung. "Zum anderen treiben sie wirtschaftliche Faktoren, aber auch der Hass ihnen gegenüber und diskriminierende Richtlinien zur Rückkehr in ihr Heimatland oder zur Flucht nach Europa, trotz aller Gefahren."

Auch scheint das Recht auf Asyl und Gründe wie Verfolgung im Heimatland keine Rolle mehr zu spielen. "Es gibt Berichte, wo erheblich Druck auf Migranten ausgeübt worden sein soll, Formulare zur freiwilligen Rückkehr zu unterschreiben - in sehr aggressiver Form", sagt Ercoban.

"Wir durften niemanden anrufen"

Davon berichtet auch Hamid aus dem Iran, der aus politischen Gründen nicht dorthin zurück kann. Nach einer Auseinandersetzung mit seinem türkischen Vermieter hätten Polizisten vor seiner Tür gestanden und ihn festgenommen. Er glaubt, er sei denunziert worden. Erst sei er auf eine Polizeiwache gekommen, dann in ein Abschiebezentrum, erzählt er.

Zwei Tage habe er mit Hunderten anderen Männern im Freien verbracht, auf Beton. "Wir durften niemanden anrufen, weder Familie noch Anwälte. Wir waren da zwei Tage lange eingepfercht in diesem Käfig, es hat immer wieder geregnet und die Polizisten haben uns nur ausgelacht und geflucht."

Am dritten Tag sei er in eine überfüllte Zelle gebracht worden. Auf dem Weg dorthin seien ihm EU-Embleme an den Wänden aufgefallen. Im Nachhinein erfährt er: Das Zentrum wurde auch mithilfe von Geldern aus dem EU-Türkei-Abkommen finanziert. Irgendwann sagen ihm Beamte, wenn er ein Formular unterschreibe, komme er sofort raus.

Das Formular: die Einwilligung zur Abschiebung. Hamid weigert sich. Über die kommenden Tage seien die Drohungen so groß geworden, dass er mit dem Gedanken gespielt habe, zu unterschreiben. Gerade noch rechtzeitig habe ihn seine türkische Freundin ausfindig gemacht und einen Anwalt eingeschaltet. Der habe ihn freibekommen und die Deportation verhindert - vorerst. Die türkische Regierung streitet Fälle wie den von Hamid ab.

"Türsteher für Europa"

In der EU, wo es in der Vergangenheit auch wiederholt Berichte über Misshandlungen von Migranten durch Behörden gab, nimmt man die Fälle in der Türkei wahr, mehr nicht. Längst liegen Ideen über ein aktualisiertes Abkommen mit der Türkei auf dem Tisch.

"Wir sahen diese Vereinbarungen schon immer als unmoralisch an", sagt Piril Ercoban. "Damals interessierte das niemanden." Doch die Zeiten haben sich geändert: Inzwischen lehnen große Teile der türkischen Bevölkerung das Abkommen ab, wenn auch nicht zwangsläufig aus moralischen Gründen.

"Wir sind die Türsteher für Europa", schrieb vor einigen Monaten eine junge Türkin in den sozialen Medien. "Und kommen selbst nicht mal rein." Ein Versprechen der EU war die Visafreiheit für türkische Staatsbürger, bis heute gibt es sie aus verschiedenen Gründen nicht.

Tägliche Angst abgeschoben zu werden

Hamid und Mara sind die politischen Umstände nicht wichtig. Sie leben derzeit von Tag zu Tag und spielen nun beide mit dem Gedanken, die Türkei zu verlassen. Ihre Heimatländer kommen nicht in Frage, es bleibt derzeit nur Europa, sagt Mara. Dass die Anfeindung auch dort stetig zunehmen, wissen beide.

Auch die Zustände in den Lagern auf den griechischen Inseln kennen sie. Dennoch wägen sie nun ab: Jeden Tag ins Angst leben, abgeschoben zu werden, oder doch eine aus ihrer Sicht bisher ungenutzte Chance auf Freiheit wagen?