Migranten sind auf der belarusischen Seite der polnischen Grenzmauer in Bialowieza zu sehen.
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Migration Die neue Balkanroute führt über Polen

Stand: 22.09.2023 06:00 Uhr

Polen hat sich zum Drehkreuz für irreguläre Migration nach Deutschland entwickelt: Die Balkanroute verläuft über einen neuen Weg - und Russland schickt noch immer Migranten in Richtung EU.

Am Mittwochmorgen um sechs Uhr melden Anwohner die ersten Geflüchteten. Acht Menschen sollen neben der Pferdekoppel stehen - die Schleuser haben sich längst davon gemacht. Die Bundespolizei fährt zu den acht jungen Männern aus Syrien und bringt sie zur Wache.

Im Süden Brandenburgs unweit der deutsch-polnischen Grenze startet für die Beamten ein ziemlich normaler Arbeitstag. Immer wieder Notrufe, immer wieder Gruppen von Geflüchteten. Bis zum Mittag wird allein die eine Inspektion 108 illegale Grenzübertritte zählen. Die Polizisten hier merken jeden Tag, dass sich die Lage verändert hat.

Die Zahl der irregulären Einreisen in die Bundesrepublik steigt stark an - und das seit nunmehr zwei Jahren. Mittlerweile registriert die Bundespolizei pro Monat mehr als 10.000 unerlaubte Einreisen, also Personen ohne nötige Ausweispapiere oder Visa. Vor zwei Jahren war es noch weniger als die Hälfte.

Grenzkontrollen in Sachsen gegen Illegale Einreisen

N. Bula/W. Minder, MDR, tagesthemen, 22.09.2023 21:45 Uhr

"Abenteuerliche" Entwicklung

Noch etwas hat sich verändert: Brennpunkt für die Grenzpolizisten sind nicht mehr die Übergänge nach Österreich, sondern nach Polen. Aus Sicherheitskreisen heißt es, im Herbst stiegen die Zahlen fast immer. Dieses Jahr aber sei es abenteuerlich. Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) spricht bereits von einer "veritablen Migrationskrise".

Der Grund für diese Entwicklung: Polen ist zum Drehkreuz für einen großen Teil der Asylmigration nach Deutschland geworden. Zum einen verläuft die Balkanroute mittlerweile durch Polen. Dazu kommt Russland, das zusammen mit Belarus weiterhin Migranten in Richtung Europäische Union schickt. Unklar ist dagegen noch, ob der aktuell diskutierte Visa-Handel in Polen die Zahlen noch weiter in die Höhe treiben könnte. 

Transitweg über Polen

Die Balkanroute, über die die meisten irregulären Migranten nach Deutschland kommen, führt von der Türkei jetzt nicht mehr über Österreich, sondern über Polen in die Bundesrepublik. Nach Informationen von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" zeigen etwa Befragungen von Asylbewerbern durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dass vor allem Syrer über Serbien, Ungarn und die Slowakei nach Polen und zum Teil über Tschechien kommen.

 

Hört man sich in Sicherheitskreisen um, werden verschiedene Gründe für die neue Richtung der Balkanroute genannt. Zum einen wirkten sich die stationären Grenzkontrollen aus, die es an der deutschen Grenze bislang nur zwischen Deutschland und Österreich gibt.

Abschreckend wirke zudem für jene, die weiter nach Deutschland wollten, dass Österreich offenbar genauer als früher die Personen registriere. Und schließlich wird auf das kroatische Grenzregime verwiesen: Die Grenzpolizei drängt verschiedenen Berichten zufolge seit Jahren Migranten mit Gewalt zurück über die Grenze. Hier gibt es für viele also kein Weiterkommen auf der traditionellen Balkanroute.

Schleuserbanden etabliert

Sicherheitskreisen zufolge zeigt kaum eines der Länder entlang der neuen Balkanroute Interesse, die Migranten zu registrieren und damit verantwortlich für deren Asylgesuch zu sein. In verschiedenen Städten in Nordserbien sollen sich Schleuserbanden etabliert haben, die Organisierte Kriminalität soll mittlerweile weite Abschnitte der Balkanroute beherrschen. Migration ist nämlich auch ein Geschäft. Schleuser bemühen sich, möglichst gute Angebote zu machen - und Routen ausfindig zu machen.   

Russische und belarusische Visa

Neben der Balkanroute kommen Migranten vor allem über Belarus nach Polen, und dann geht es für viele weiter nach Deutschland. Nach Angaben des Brandenburger Innenministeriums würden aktuell etwa die Hälfte der Personen in den Erstaufnahmeeinrichtungen über Moskau und Minsk kommen. Viele von ihnen sollen russische oder belarusische Visa besitzen und zuvor längere Zeit in der Türkei, aber auch im Iran oder in den Vereinigten Arabischen Emiraten gelebt haben.

"Diese Route kann vollständig mit Flug und Visa für Russland und Belarus und anschließender Schleusung gebucht werden", heißt es aus dem Ministerium in Potsdam. Da es sich um eine teure Route handele, würden später etwa Sozialleistungen genutzt, um Schulden bei Schleusern abzubezahlen.  

Kriminelle und Politik agieren Hand in Hand

Seitdem Moskau vor zwei Jahren auf dieser Route Migration als "Waffe" gegen die EU einsetzte, schauen die Sicherheitsbehörden dort genau hin. Anders als damals heißt es aus deutschen Sicherheitskreisen jetzt, dass man aktuell keinen russischen Masterplan dahinter sehe.

Russland steuere zwar bewusst die Vergabe von Visa und habe diese Mitte 2022 noch einmal gelockert. Gleichzeitig heißt es aus Sicherheitskreisen aber auch, dass sich auf dieser Route in den vergangenen zwei Jahren eine Schleuserindustrie etabliert habe, die jetzt ihr Geschäft betreibe. Kriminelle und Politik agierten quasi Hand in Hand.  

Aggressives Vorgehen

Den direkten Weg von Belarus nach Polen schlagen heute jedenfalls eher weniger Migranten ein - was sicherlich auch mit dem robusten polnischen Grenzschutz zu tun hat, dem immer wieder Gesetzesverstöße vorgeworfen werden.

Auf Nachfrage erklärte die polnische Regierung, dass der Grenzübertritt aus Belarus immer organisierter und verdeckter ablaufe, gesteuert etwa durch Russen. Das Vorgehen sei aggressiv, so würden etwa Steine auf Grenzbeamte geworfen. Belarus transportiere Migranten nicht nur bis zur Grenze, sondern statte sie mit Hilfsmitteln wie Leitern oder Schneidegerät sowie Steinen zum Werfen aus, heißt es aus Warschau. 

Diese zunehmende Eskalation an der polnisch-belarusischen Grenze sorgte zuletzt offenbar dafür, dass Ausweichrouten entstehen: im Norden über Litauen und im Süden über die Ukraine nach Polen. Aus deutschen Sicherheitskreisen heißt es dazu, Belarus würde immer wieder Grenzabschnitte für Schleuser quasi freigeben.  

Instrumentalisierung der Migration

Dass Migration als hybrides Mittel auch weiterhin von Russland genutzt wird, davon geht unter anderem Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, aus: In der gerade veröffentlichten Risikoanalyse heißt es deutlich, dass die Wahrscheinlichkeit steige, dass Russland und Belarus Migranten instrumentalisiere.

Dies gelte nicht nur für die Route im Osten, schreibt Frontex. Auch an den südlichen EU-Außengrenzen habe Russland Verbündete. Diese könnten im Sinne des Partners aus Moskau agieren. Und den Druck an weiteren Grenzen erhöhen.