Neben einem verlassenen Kontrollpunkt in Lefkosa (Nikosia) wehen die Flaggen der Türkei und der Türkischen Republik Nordzypern.
Europamagazin

Nordzypern "Wie eine türkische Kolonie"

Stand: 01.04.2023 08:29 Uhr

Immer mehr Menschen verlassen Nordzypern. Das liegt auch an der Islamisierung des eigentlich säkularen Landesteils und an der aggressiven Siedlungspolitik des türkischen Präsidenten Erdogan.

Der Blick wirkt leer, als Dogus Derya auf den Stacheldraht vor ihr schaut. Keine 100 Meter entfernt kontrollieren Soldaten der Vereinten Nationen den Grenzbereich.

Seit fast 50 Jahren ist Zypern geteilt. Die Grenze verläuft auch mitten durch die Hauptstadt Nikosia. Derya hat ihre Heimat nie anders gesehen. Aber gewöhnen will sie sich an die Grenze nicht. "Das ist einfach traurig", sagt sie.

Mangel an Perspektiven für junge Nordzyprer

Derya ist Oppositionsabgeordnete in Nordzypern. Eine der größten politischen Herausforderungen, erklärt sie, sei der Weggang der jungen türkischen Zyprer. Sie verließen den Nordteil der Insel aus Mangel an Perspektiven.

Auch sie sind trotz des türkischen Einflusses im Norden EU-Bürger. Denn völkerrechtlich und damit auch aus Sicht der EU gehört die ganze Insel zum Staatenverbund. Viele der Jugendlichen gingen aus beruflichen Gründen - aber auch wegen des Drucks aus Ankara.

Als wir uns auf der Straße umhören, bestätigen das viele Passanten. "Ein Hoffnungsschimmer wäre nötig", sagt etwa Nesrin Canbaz, und Tülay Sonmez berichtet, sie habe es aufgegeben, traurig zu sein. "Im Jahr 2000 ist meine Tochter in die USA gegangen. Dann nach England." Jetzt schreibe sie ihre Doktorarbeit in Schweden.

Und dann gebe es da noch ein großes Problem mit Glücksspiel und Prostitution, sagt Derya. Tatsächlich sind vor Nord-Nikosia Nachtclubs wie Pilze aus dem Boden geschossen. "In den letzten fünf bis sechs Jahren wurden Frauen, die als Sexsklavinnen arbeiten sollen, als Studentinnen in eine der Universitäten eingeschrieben", so Derya. Doch da Nordzypern kein anerkannter Staat ist, kann beispielsweise Interpol hier nicht gegen Menschenhändler ermitteln. 

Sorgen und Probleme von türkischen Zyprern

Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul, Europamagazin 12:45 Uhr

Nordzypern seit 1974 von Türkei besetzt

Oppositionspolitikerin Derya wirbt dafür, dass die jungen Menschen bleiben und stemmt sich gegen die Zypernpolitik des türkischen Präsidenten Erdogan. Früher hätten türkische Regierungen Nordzypern wenigstens wie einen unabhängigen Staat behandelt. Doch "jetzt behandeln sie uns wie eine türkische Kolonie".

Einige Kilometer entfernt kann man ein Gefühl dafür bekommen. Wir sind Gast bei einer türkischen Militärparade. Hierhin will Derya auf keinen Fall kommen. Seit 1974 hält die Türkei Nordzypern besetzt. Anfangs, um türkische Zyprer vor griechisch-zyprischen Nationalisten zu schützen. Inzwischen aber aus Sicht vieler Einheimischer auch, damit alle verstünden, dass der Norden ein für alle Mal zur Türkei gehöre. 

Politik im Sinne Ankaras

Heute schauen beim Militäraufmarsch vor allem nationalistische Türken zu, die in den vergangenen Jahrzehnten aus der Türkei nach Nordzypern gezogen sind. Sie machen inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerung aus.

Ein Großteil von ihnen wählt konservativ, also den Erdogan-Verbündeten und derzeitigen "Präsidenten" der nur von der Türkei anerkannten sogenannten "Türkischen Republik Nordzypern" Ersin Tatar. Er mache nichts, was den Amtskollegen in Ankara verärgern würde, sagen seine Kritiker. 

Auch Dogus Derya warnt, Tatar treibe im Sinne Erdogans die Turkisierung und Islamisierung Nordzyperns voran. Er lasse zu, dass beispielsweise Erdogan einen Präsidentenpalast auf Zypern baue, ohne die Menschen in Nordzypern vorher dazu befragt zu haben.

"Versuch einer kulturellen Transformation"

"Man mischt sich in unsere Demokratie ein", beklagt Derya. "Es gibt einen türkischen Machthaber, der entscheidet, wer hier die führenden Positionen im Staat übernimmt." Gleichzeitig lasse Erdogan mit türkischem Geld eine überdimensionale Moschee bauen, obwohl die meisten Nordzyprer eher säkular seien und kaum jemand zum Freitagsgebet gehe. 

Hinter dem Grenzübergang, der den Norden vom Süden trennt, liegt der griechische Teil der Hauptstadt, die auf der türkisch besetzten Nordseite Lefkosa und im griechischsprachigen Süden Lefkosia heißt. Von dort aus beobachtet Professor Hubert Faustmann, ein deutscher Wissenschaftler, der vor Ort arbeitet, seit vielen Jahren Ankaras zunehmenden Einfluss.

"Es wird massiver Druck ausgeübt, Religion in den Schulen zu verankern, Moscheen zu bauen", bestätigt er. Und geht noch weiter: "Der Versuch einer kulturellen Transformation, der wird ganz aggressiv vorangetrieben." Die türkischen Zyprer würden das im Moment aber noch stark ablehnen.

Kampf gegen Erdogans Einfluss

Auch Derya kritisiert auf der anderen Seite der Grenze bei ihren Reden im nordzyprischen Parlament Erdogans Einmischung scharf. Für ihre klaren Worte wurde sie allerdings vom politischen Gegner mehrfach übel angegangen, bekam auch immer wieder Morddrohungen von türkischen Nationalisten, wie sie sagt.

"Im Jahr 2018 musste ich mit meinen Eltern vorübergehend den Wohnort wechseln. Einen Monat lang. Ich habe Polizeischutz beantragt, und die Polizei hat die ganze Zeit patroulliert und kontrolliert, ob ich in einer bedrohlichen Situation lebe", erzählt sie.

Still zu sein, das komme für sie dennoch nicht in Frage. Sie wolle weiterkämpfen gegen Erdogans zunehmenden Einfluss. Und dafür, dass junge Nordzyprer auf der Insel blieben. Es ist kein einfacher Kampf, denn der türkische Präsident sieht den Norden Zyperns offenbar schon lange als Teil der Türkei.  

Diese und weitere Reportagen sehen Sie im Europamagazin - am Sonntag um 12.45 Uhr im Ersten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Europamagazin am 02. April 2023 um 12:45 Uhr.