Rauch und Flammen steigen aus einem Gebäude in Kupjansk auf. (Archivbild: 05.08.2023)

Evakuierungen in Kupjansk "Ich werde nirgendwohin gehen"

Stand: 11.08.2023 19:31 Uhr

Zahlreiche Menschen aus Kupjansk sollen vor den russischen Angriffen in Sicherheit gebracht werden - doch nicht jeder möchte gehen. Die Behörden leisten daher viel Überzeugungsarbeit, sind aber auch bereit, Evakuierungen mit Zwang durchzusetzen.

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Der kleine Ort Kupjansk im Osten der Ukraine liegt zurzeit rund neun Kilometer von der Front entfernt. Nach ukrainischen Militärangaben greifen acht russische Angriffsgruppen in seine Richtung an - und es toben intensive Kämpfe. Durch russische Artillerie und Luftangriffe kommen auch Zivilisten ums Leben und werden verletzt.

Ljubov Anatoliiwna bringen dennoch keine zehn Pferde weg aus Kupjansk. "Meine Kinder schimpfen mit mir, aber ich werde nirgendwohin gehen", sagt sie. Hier sei sie zuhause, in ihrem Haus gebe es Gas und einen Holzkessel, einen Brennholzvorrat habe sie auch. "Wenn es keinen direkten Einschlag gibt, werde ich überleben."

"Eine Evakuierung, die alle betrifft"

Die ältere Dame mit dem beigen Sonnenhut steht zwischen zerschossenen Gebäuden in Kupjansk, wo Einkaufen, Gartenarbeit oder ein harmloser Spaziergang zum Nachbarn lebensgefährlich sind. Die verantwortlichen Behörden haben deswegen eine bittere Entscheidung getroffen: Mehr als 50 Gemeinden des Bezirks Kupjansk sollen in Sicherheit gebracht werden.

Eine ablehnende Haltung wie bei Ljubov Anatloiivna sei jedoch keine Seltenheit, so Oleksandr Skoryk. Wer weg wollte sei längst gegangen, konstatiert der Abgeordnete des Charkiwer Regionalparlaments. Manche würden um Zeit bitten, damit sie packen könnten, andere eine Evakuierung kategorisch ablehnen. "Aber leider können die Menschen nicht entscheiden, ob sie bleiben oder nicht. Dies ist eine Evakuierung, die alle betrifft", sagt er.

Hotlines für akute Fragen

Wer trotz der Gefahr partout nicht weggehen möchte, muss eine Erklärung unterschreiben, dass er oder sie auf eigene Verantwortung bleibt. Doch die ukrainische Regierung, Ehrenamtliche sowie Zivil-  und Militärbehörden setzen bei den Evakuierungen aufs Überzeugen. Was kann ich mitnehmen, wo werde ich wohnen, wie lange muss ich weg und wer zahlt das alles? Für brennende Fragen wie diese gibt es Hotlines, deren Mitarbeiter alles beantworten sollen, so der Leiter der Militärverwaltung von Kupjansk Andrij Besedin.

Menschen könnten dort anrufen und Fragen zur Evakuierung hinterlassen, die dann bearbeitet und beantwortet würden. Die Menschen würden von Freiwilligen abgeholt und zu einem Regionalzentrum gebracht, wo sie Sozialarbeiter, Psychologen und Freiwillige treffen sollen. "Nach der Evakuierung entscheiden die Menschen, ob sie in der Stadt Charkiw bleiben oder in andere Regionen im Westen der Ukraine ziehen möchten", so Besedin.

Hunderte Kinder in Kupjansk

Für Polizei, Nichtregierungsorganisationen oder Behörden bleibt es wohl dennoch mühsam, die Menschen endgültig zum Mitkommen zu bewegen. Schätzungsweise 12.000 Menschen sollen sie rund um Kupjansk evakuieren, unter ihnen rund 600 Kinder.

Der Leiter der regionalen Militärverwaltung Charkiw, Oleh Synegubow, wirkt wild entschlossen dies durchzusetzen. Es gäbe immer noch Menschen, die in ihren Dörfern bleiben würden, obwohl diese jeden Tag beschossen werden würden, so Synegubow. In den letzten beiden Tagen seien bereits mehr als 30 Menschen evakuiert worden, in der Stadt Kupjansk seien noch 523 Kinder.

"Die Evakuierung ist eine vorbeugende Maßnahme, denn unsere Soldaten stehen in ihren Stellungen, aber der Feind greift die Zivilbevölkerung an", sagt Synegubow. Fast täglich komme es zu Luftangriffen auf Grenzsiedlungen, die leider meist große Zerstörungen und Tote unter der Zivilbevölkerung verursachen würden.

Evakuierungen gegen Elternwillen

Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren dürfen allerdings nicht ohne Einverständnis und Begleitung ihrer Eltern oder gesetzlicher Betreuer evakuiert werden. Dass Menschen trotz russischer Angriffe und naher Kämpfe in ihren Orten bleiben wollen, ist kein neues Thema. Auch in heftig umkämpften Städten wie Bachmut, Soledar oder Sievierodonezk mussten bleiche traumatisierte Kinder wochenlang in Kellern ausharren, bevor sie fortgebracht werden konnten.

In solchen Fällen können die Behörden eingeschaltet werden, doch das ist graue Theorie. Angesichts russischer Angriffe auf die Menschen bleibt Psychologen, Polizisten, Ehrenamtlichen oder Vertretern von Militär- und Zivilverwaltungen nichts anders als die Eltern zu überzeugen, dass diese Kinder in der Ukraine die Zukunft sind.

Die regionale Militärverwaltung von Charkiw bereite nun einen Beschluss vor, der die Zwangsevakuierung von fast 800 Kindern aus Kupjansk und umliegenden Dörfern erlauben soll, das sagte Synegubov am Abend in Suspilne. Dem zufolge können Kinder auch gegen den Willen der Eltern evakuiert werden.  

Andrea Beer, ARD Kiew, tagesschau, 11.08.2023 18:02 Uhr