Ein Soldat der 17. ukrainischen Panzerbrigade nahe der Stadt Tschassiw Jar im Februar 2024.

Kampf in Ukraine um Tschassiw Jar "Wir rennen, während Drohnen über uns fliegen"

Stand: 17.04.2024 08:04 Uhr

An der ukrainischen Ostfront steht besonders das strategisch wichtige Tschassiw Jar unter russischem Dauerbeschuss. Soldaten schildern noch härtere Kämpfe als in Bachmut. Sie hoffen auf mehr Munition.

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Der dunkelhaarige Mediziner sieht müde aus. Er hält die Infusion für einen verletzten ukrainischen Soldaten, der vor ihm auf einer schmalen Liege liegt. Er wurde bei Tschassiw Jar im Gebiet Donezk verwundet und vom Evakuierungsteam in den sogenannten Stabilisierungspunkt nahe der Front gebracht.

Nachts sei es einfacher, Verwundete zu holen - auch mit dem Auto -, denn es flögen weniger russische Drohnen, sagt die 24-jährige Militärmedizinerin mit dem Rufnahmen "Tora", die im "Stabilisierungspunkt" auf einer Bank sitzt: "Es kommt vor, dass verwundete Soldaten seit drei Uhr in der Nacht zu Fuß unterwegs waren, weil sie keine andere Möglichkeit hatten, ihre Stellungen zu verlassen, um Erste Hilfe zu bekommen."

Karte Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Tschassiw Jar liegt auf einer strategisch wichtigen Anhöhe, deren Kontrolle es Russland ermöglichen würde, im Donbass weiter vorzudringen.

Nach Angaben der ukrainischen Armeeführung greift Russland im Gebiet Donezk an mehreren Frontabschnitten an. Moskau versuche, die ukrainischen Verteidigungslinien westlich von Bachmut zu durchbrechen und Tschassiw Jar einzunehmen, schreibt Ameechef Oleksandr Sirskyj auf Facebook. Unter anderem durch Artilleriedauerfeuer und den Einsatz tonnenschwerer Gleitbomben.

Die Situation an der Front im Osten habe sich erheblich verschlechtert, sagte Sirskyj vergangenen Samstag. Die Brigaden bekämen zusätzliche Munition, Drohnen und elektronische Ausrüstung.  

"Die Russen stürmen rund um die Uhr"

"Sie stürmen rund um die Uhr und schießen mit allem, was sie haben", berichtet Oles Maljarewitsch im ukrainischen Fernsehen. Er ist Vizekommandeur der 92. Spezialsturmbrigade, die in Tschassiw Jar im Einsatz ist.

Es werde alles getan, um für drei bis vier Tage einen Vorrat an Munition und Drohnen zu haben. Doch die russische Seite nutze ihr gesamtes Potenzial und greife mit Dutzenden Gefechtsformationen gleichzeitig an - das mache es schwierig, sagt Maljarewitsch.  

Wir wissen, dass die Russen Tschassiw Jar unbedingt erobern wollen. Wir tun alles, damit ihnen das nicht gelingt, denn jeder weiß, wie wichtig Tschassiw Jar ist
Ukrainischer Panzer bei Tschassiw Jar

Die ukrainische Armee versucht Tschassiw Jar vor den russischen Invasoren zu verteidigen.

Härter als in Bachmut

Tschassiw Jar liegt knapp 20 Kilometer westlich von Bachmut, das nach monatelangen, schmerzhaft verlustreichen Kämpfen vor einem knappen Jahr von Russland besetzt wurde. Artillerist Ihor kämpfte damals dort - und wird nun bei Tschassiw Jar eingesetzt.

Der 27-Jährige beschrieb die Kämpfe gegenüber der Nachrichtenagentur AFP: "In Bachmut war ich sicherer, denn dort gab es Gebäude und Platz, um sich zu verstecken. Wir haben unsere Aufgabe erledigt und konnten dann irgendwo hineingehen. Hier rennen wir, während russische Drohnen über uns fliegen."

Das Kämpfen in Tschassiw Jar sei härter als in Bachmut.   

"Putin wollte in Awdijiwka zeigen, dass er vorankommt"

Bachmut, Soledar, Sjewjerodonezk, Lyssytschansk, Mariupol und Awdijiwka. Unter anderem um diese Städte im Osten der Ukraine tobten nach der russischen Großinvasion vor mehr als zwei Jahren monatelange erbitterte Kämpfe, in denen sich die ukrainische Seite den Invasoren am Ende geschlagen geben musste.

Fehlende Waffen, keine oder keine moderne Flugabwehr für die Front und zu wenig Munition trugen aus ukrainischer Sicht entscheidend zu diesen schmerzhaften und verlustreichen Niederlagen bei.

Die russischen Invasoren unternähmen alles, um Tschassiw Jar unter ihre Kontrolle zu bringen, sagt Oleksandr Kowalenko, der Sicherheitsexperte am Kiewer Dmytro-Tymchuk-Zentrum ist. Die Besetzung der Ruinen von Awdijiwka vor rund zwei Monaten sei für Wladimir Putin eher eine Propagandaoffensive vor den Schein-Präsidentenwahlen gewesen, sagt er. Damit habe der russische Machthaber zeigen wollen, dass er in der Ukraine vorankomme.

Abhängig von der Versorgung mit Artillerie und Munition

Mit Tschassiw Jar sei es anders. Die Stadt liegt auf einer strategisch wichtigen Anhöhe, deren Kontrolle es Russland ermöglichen würde, im geschundenen Donbass weiter vorzudringen. Von dort aus seien es noch rund zehn Kilometer nach Kostjantyniwka - und von dort aus führe die Straße in Richtung der ukrainisch kontrollierten Städte Kramatorsk und Slowjansk.  

Die Russen unternähmen für die Einnahme Tschassiw Jars maximale Anstrengungen und zögen viele Truppen zusammen. Andererseits hätten die ukrainischen Verteidiger rund um den Ort ein ziemlich großes Gebiet befestigt. Die Frage sei nun, ob es ausreichend Ressourcen der internationalen Partner gebe, sagt Kowalenko: "Wir sind immer noch von der Versorgung mit Artillerie und Munition abhängig, um die ständigen russischen Wellenangriffe stoppen zu können."

Ein Mann verlässt ein brennendes Haus in Tschassiw Jar

Tschassiw Jar hatte einst rund 13.000 Einwohner, jetzt sind es noch 700 (Archiv).

Militärverwaltung: Jedes Gebäude in Tschassiw Jar ist beschädigt

In Tschassiw Jar lebten bis zur russischen Großinvasion rund 13.000 Menschen. Laut Serhii Tschaus von der dortigen Militärverwaltung harren nun noch etwa 700 Personen dort aus, die den Aufrufen der Evakuierung bisher nicht folgen wollen. Es gebe kein Gebäude in der Stadt, das nicht beschädigt sei.  

Die russische Armee wolle Tschassiw Jar bis zum 9. Mai einnehmen, erklärte der ukrainische Armeechef Sirsky. An diesem Tag wird in Russland der "Tag des Sieges" begangen, der an den Sieg der Alliierten über Deutschland im Zweiten Weltkrieg erinnert. In der Ukraine wird am 8. Mai an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert, und der 9. Mai ist Europatag.   

"Rhetorik schützt den Himmel nicht"

Die militärische und politische Führung der Ukraine schickt unterdessen täglich eindringliche Appelle an die Welt, Kiew militärisch und finanziell mehr zu unterstützen. Sei es mit moderner Flugabwehr, sei es mit Munition. Man dürfe keine Zeit mehr verlieren, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj: "Der Himmel wird nicht durch Rhetorik geschützt, die Produktion von Raketen und Drohnen wird nicht durch Gedanken begrenzt, und das Selbstbewusstsein des Terrors wächst." 

Sanktionen gegen Russland würden immer noch umgangen, die Ukraine warte seit Monaten auf ein wichtiges Unterstützungspaket aus den USA und eine Abstimmung im Kongress. Die erfolgreiche gemeinsame Abwehr des iranischen Angriffs auf Israel habe gezeigt, wir wirksam moderne Luftverteidigung Leben schützen könne, sagte Selenskyj.

In den "Stabilisierungspunkt" nahe der Frontlinie werden unterdessen weitere verwundete ukrainischen Soldaten gebracht. Der braunhaarige Mediziner dort sieht müde aus, denn der Kampf um Tschassiw Jar ist noch nicht zu Ende.

Andrea Beer, ARD Kiew, tagesschau, 17.04.2024 06:28 Uhr