Awdijiwka

Abzug ukrainischer Truppen "Awdijiwka existiert nicht mehr"

Stand: 18.02.2024 19:33 Uhr

Die frühere Industriestadt Awdijiwka liegt in Schutt und Asche. Russische Einheiten sind in die fast vollständig zerstörte ukrainische Stadt eingerückt. Und auch aus der Umgebung werden neue Gefechte gemeldet.

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Ein Video soll zeigen, wie ukrainische Soldaten Awdijiwka verlassen. Es wurde von der dritten Sturmbrigade veröffentlicht. Sie hatte Rückendeckung gegeben, um den Abzug zu ermöglichen. Dennoch fielen im Zuge des ukrainischen Rückzugs laut Armeeführung eigene Soldaten in russische Hand. Die Ukrainer seien in Gefahr gewesen, eingekesselt zu werden. Und um ihre Leben zu retten, sei der Rückzug richtig, schrieb Armeechef Oleksandr Sirksy auf der Plattform X und auf Facebook.

Ähnlich äußerte sich Präsident und Oberbefehlshaber Wolodymyr Selenkskyj auf der Münchener Sicherheitskonferenz. Der Rückzug sei eine professionelle Entscheidung, die für die russische Seite jedoch keinen Vorteil bedeute, so Selenskyj. Russland habe Leben, Dörfer und Städte in der Ukraine zerstört sowie Zehntausende eigener Soldaten getötet.

Russische Invasoren rücken weiter vor

Nachdem sich die ukrainischen Truppen aus der Stadt Awdijiwka zurückzogen haben und nun die Frontlinien stabilisieren müssen, hält die russische Armee die ehemalige Industriestadt und die weitläufige Kohlefabrik nach eigenen Angaben besetzt.

Awdijiwka liegt nur wenige Kilometer entfernt von Donezk und so ist auch die seit 2014 russisch besetzte Gebietshauptstadt etwas mehr aus der Reichweite der ukrainischen Armee gerückt. An Drohnen, Gleitbomben, Flugzeugen oder Soldaten ist Russland rein zahlenmäßig erdrückend überlegen und die Angreifer rücken laut ukrainischen Angaben weiter in Richtung Westen vor.

Karte Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Ukraine veröffentlicht keine Todeszahlen

Im Fokus stand zuletzt der kleine Ort Lastochkine. Die russische Seite versuche aktiv, diesen einzunehmen, sagte der Sprecher des ukrainischen Militärkommandos, Tawria Dymtro Lichovy, im ukrainischen Fernsehen. Dort hätten die ukrainischen Soldaten heftige Angriffe abwehren müssen. "Es gab viele Kampfhandlungen und feindliche Angriffe aus der Richtung Awdijiwka und der Gegner versucht aktiv, das Dorf Lastochkine einzunehmen. Es wurden dort 14 Angriffe gezählt", so Lychovy. Die russische Seite habe enorme Verluste erlitten, nicht nur bei Awdijiwka.

Seit Jahresbeginn bis einschließlich 16. Februar seien mehr als 20.000 russische Soldaten getötet und viel Militärtechnik zerstört worden, darunter rund 200 Panzer. Die russischen Angreifer seien über die Leichen der eigenen Soldaten vorgerückt, schrieb Brigadegeneral Oleksandr Tarnawskyj auf Telegram.  

Die ukrainische Seite veröffentlicht keine offiziellen Zahlen. Wie viele ukrainische Soldaten bei den Kämpfen um Awdijiwka getötet wurden oder insgesamt seit dem Beginn der russischen Großinvasion, kann nur geschätzt werden. Sicher ist, es sind viele.

Konfliktparteien als Quelle

Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.

Mobilisierung ist Thema ukrainischer Innenpolitik

Auf lange Sicht werden ukrainische Männer in der Armee gebraucht. Mobilisierung ist ein entsprechend wichtiges Thema und ein neuralgischer Punkt ukrainischer Innenpolitik. Parlament und Regierung debattieren seit Wochen heftig über ein neues Mobilisierungsgesetz.

Maria Zolkina ist beim Think Tank "Ilko Kucheriw" zuständig für Konflikt- und Sicherheitsfragen und Stipendiatin der London School of Economics. Im Gespräch mit dem ARD-Studio Kiew plädiert sie für eine offene, ehrliche Debatte. "Mobilisierung sollte ein Thema sein, das von den offiziellen Behörden endlich bewusst und ehrlich kommuniziert werden sollte", so Zolkina.

"Vielleicht wäre es an der Zeit, über die Verluste der Ukraine im Krieg zu sprechen, und zwar ab dem heutigen Tag. Vielleicht ist es für die politischen Instanzen des Landes nicht von Vorteil, die realen Verluste auszusprechen, aber vielleicht könnte es den Dialog mit der Gesellschaft auf eine Ebene bringen, in der Erwachsene mit Erwachsenen reden", sagte Zolkina.

Selenskyj: "Russland hatte mehr Waffen"

Eine Ansicht, die in der Ukraine jedoch praktisch niemand öffentlich vertritt. Die Todeszahlen könnten demotivieren und dem Gegner Russland nützen, so die gängige Meinung. Präsident Selenskyj sagte unterdessen auf der Münchener Sicherheitskonferenz, man werde Awdijiwka zurückerobern. Er betonte jedoch erneut, Russland habe einfach mehr Waffen und die Ukraine brauche unter anderem dringend Langstreckenwaffen, moderne Flugabwehr sowie mehr Artilleriemuniton.

So kommentierte es auch der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow. Er schrieb auf Facebook, die Lektion aus Awdijiwka sei, dass die Ukraine mehr moderne Flugabwehr benötige, damit der Gegner keine Gleitbomben mehr einsetzen könne. Unter anderem diese hatten der ukrainischen Armee enorme Probleme bereitet.   

Der Mangel an modernen Waffen ist den Menschen in der Ukraine mehr als schmerzlich bewusst. Viele hatten damit gerechnet, dass die russischen Invasoren auch Awdijiwka einnehmen könnten, dennoch löst der Rückzug von dort eine große Niedergeschlagenheit aus.

Letzte Zivilisten evakuiert

Der Fall der ehemaligen Industriestadt an die russischen Invasoren ist aus Sicht Moskaus wichtig, denn damit wurde erstmals seit Mai 2023 wieder eine ukrainische Stadt eingenommen, die zudem weitaus besser befestigt war als Bachmut. Die Stadt im Gebiet Donezk wurde von Russland ebenfalls erst nach monatelangen Kämpfen besetzt - genauer, was davon noch übrig war.

Auch die frühere Industriestadt Awdijiwka liegt nun in Schutt und Asche. Kurz vor der endgültigen Entscheidung zum Abzug evakuierte die ukrainische Armee noch die - wie es hieß - letzten verbliebenen Zivilisten aus den Ruinen von Awdijiwka. Vertreter der ukrainischen Armee filmten eine Ukrainerin, die beim Anblick der Zerstörung geradezu hysterisch wirkte: "Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Es ist der reinste Albtraum, warum werden wir so gestraft?" Der Soldat am Steuer konnte die weinende Frau kaum beruhigen. "Ja", sagte er äußerlich vergleichsweise gefasst: "Awdjiwka existiert nicht mehr."  

Andrea Beer, ARD Kiew, tagesschau, 18.02.2024 18:12 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 18. Februar 2024 um 20:00 Uhr.