Menschen in Kiew mit EU-Flaggen (Archivbild)

Blick der Ukrainer auf EU "So etwas wie ein Paradies"

Stand: 02.02.2023 10:38 Uhr

Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Würde - dafür kämpfen viele Menschen in der Ukraine seit Jahren. Die EU ist dabei zum Symbol für Hoffnung auf ein besseres Leben geworden - für das manche bereit sind zu sterben.

Von Rebecca Barth, WDR, zzt. in Kiew

Die Ukraine und Europa - seit Beginn des russischen Angriffskrieges sind die Beziehungen enger als je zuvor. Dabei streben viele in der Ukraine schon viel länger nach Europa. Dmytro Prokoptschuk, ein Politikberater aus Kiew, erinnert sich an seine Zeit in Deutschland: Viele ältere Gebäude in Deutschland seien noch intakt - im Gegensatz zur Ukraine, wo das kulturelle oder architektonische Erbe nicht so gut erhalten sei.

"Ich habe viele Tiere in den Parks gesehen", erzählt Prokoptschuk. "Vielleicht ist das für Europäer normal. Aber wenn diese Tiere keine Angst vor Menschen haben, bedeutet es, dass sie sich nicht bedroht fühlen." Das sage viel über die Kultur aus, die die Europäer und insbesondere die Deutschen hätten.

Blick auf die Maidanproteste (Archivbild: 29.11.2013)

Die EU-Flagge im Jahr 2013 auf dem Maidan: Schon damals war sie "die Flagge der Hoffnung", sagt Soziologe Hrushetskyj.

Euromaidan fast neun Jahre her

Es ist fast neun Jahre her, dass Dutzende Menschen bei Protesten in Kiew von Spezialkräften der Polizei erschossen wurden. Wochenlang hatten sie sich blutige Straßenschlachten mit der Polizei geliefert. Der Euromaidan aber begann einst friedlich. Studierende protestierten gegen die Nicht-Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU. Aber die gewaltsame Niederschlagung der Proteste entfachte eine Revolution.

"Sie fand unter der Flagge der Europäischen Union statt, weil es eine Flagge der Hoffnung war", erklärt Anton Hrushetskyj vom Internationalen Institut für Soziologie in Kiew. "Selbst jetzt, wenn wir fragen, wie sich die Ukrainer die Zukunft des Landes in zehn Jahren vorstellen, dann antworten 90 Prozent: als Teil der Europäischen Union, als ein wohlhabendes Land mit einer guten Wirtschaft."

Wunsch nach Normalität

Schon auf dem Maidan vor neun Jahren waren die Ukrainerinnen und Ukrainer bereit, ihr Leben für eine bessere Zukunft zu geben. Man wolle eben in einem normalen Land leben - so die Aussage vieler Demonstrantinnen und Demonstranten von damals. Und Europa symbolisiert für viele auch heute noch genau das.

"Wenn man nachfragt, was ein normales Land bedeutet, erhält man eine Vielzahl von Antworten", sagt die Politikwissenschaftlerin Olga Onuch von der Universität Manchester. "In einigen Fällen ist es die Vorstellung von einem Land, das frei von jeglicher Korruption ist, einen unglaublichen Sozialstaat hat, der sich um seine Bürger kümmert."

Für andere seien es ganz kleine Dinge wie eine bessere Ausbildung oder die Möglichkeit, den Kontinent bereisen zu können.

Europäische Union als Paradiesvorstellung

Aus dem Kampf für ein besseres Leben ist ein Kampf um Existenz geworden. In Folge des russischen Krieges gegen die Ukraine sind die Zustimmungswerte zur Europäischen Union stetig gewachsen. Viele haben das Gefühl, heute keine Wahl mehr zu haben. Ein Pufferstaat zwischen Ost und West zwischen Demokratie und Autokratie möchten die Menschen in der Ukraine nicht sein, sagt der Soziologe Hrushetskyj.

"Man könnte sogar sagen, dass viele Ukrainer ihre Souveränität gegen die Herrschaft der Europäischen Union eintauschen würden, nur um die Ukraine durch diese schlechten Zeiten in eine bessere Zukunft zu führen", meint Hrushetskyj. Die Europäische Union sei für einige Ukrainerinnen und Ukrainer "so etwas wie ein Paradies". Die meisten von ihnen gingen davon aus, dass ein EU-Beitritt bedeute, man werde ein wohlhabendes, ein gutes Land.

Europa als Sinnbild für Würde

Doch Europa steht in der Ukraine nicht nur für wirtschaftliche Stabilität und hohe Lebensstandards. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, funktionierende Staatsorgane - für all das kämpft die ukrainische Gesellschaft. Und hat in den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte erzielt. Heute bezeichnen die Menschen die Proteste von damals als die "Revolution der Würde".

Es war ein Aufbäumen der Zivilgesellschaft mit dem Anspruch, die Menschenwürde der Bürger vor der damaligen Staatsmacht zu verteidigen. "Vielleicht verstehen das einige Franzosen oder Deutsche nicht. Oder einige Briten, die beschlossen haben, aus der EU auszutreten", sagt die Politikwissenschaftlerin Onuch.

Es ist wirklich das, wofür die Menschen bereit sind zu sterben. Das ist unglaublich stark und auch unglaublich traurig, oder? Dass sich die Menschen in der Ukraine etwas, das wir in Westeuropa für selbstverständlich halten, so sehr wünschen.
Rebecca Barth, WDR, zzt. Kiew, 01.02.2023 20:48 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 02. Februar 2023 um 11:00 Uhr.