Ein Kunde bezahlt seinen Einkauf.

Gefühlte Inflation Warum sich die Teuerung schlimmer anfühlt

Stand: 01.03.2022 14:10 Uhr

Die Währungsumstellung 2002 gilt als Geburtsstunde der "gefühlten Inflation". Alle beklagten damals den "Teuro". Derzeit empfinden viele wieder so. Warum liegen gefühlte Teuerung und offizielle Zahlen so weit auseinander

Es ist dunkel geworden. Veronika Erol aus Koblenz zieht sich ihre Jacke an und geht jetzt einkaufen. "Am Abend kurz vor Ladenschluss setzen die Supermärkte einige Preise nach unten. Ich muss genau kalkulieren. Das Geld reicht nicht mehr", erzählt die 40-Jährige. Erol ist seit zwei Jahren ohne Job und bekommt Arbeitslosengeld II. "Im vergangenem Spätsommer hat es mit der Inflation spürbar angefangen. Es wird immer extremer. Ich bekomme für die gleiche Summe immer weniger", sagt sie.  

Immer weniger im Einkaufswagen

Erol hat bei ihrer späten Einkaufstour vor allem frisches Obst und Gemüse im Blick. Sie möchte ihre Tochter und sich trotz schmalem Portemonnaie gesund ernähren. Fertiggerichte und Dosen lässt sie im Regal stehen. "Eine Gurke habe ich vor einem guten Jahr noch für 40 Cent bekommen. Die kosten aber jetzt selbst beim Discounter schon 1,40 Euro", rechnet sie vor. "Früher habe ich immer vier Gurken in der Woche gekauft, jetzt sind es nur noch höchstens zwei. Mehr ist nicht drin. Diese Teuerung gilt für viele andere Produkte auch."

Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes bestätigen Veronika Erol. Nach einem Anstieg bis zum Sommer auf gut zwei Prozent schoss die Inflationsrate bis zum Jahresende auf über fünf Prozent hoch. Im Februar lag sie nach vorläufigen Zahlen des Statistischen Bundesamts bei 5,1 Prozent.

In einem Punkt aber widerspricht Erol den Statistikern aus Wiesbaden: "Mein Eindruck ist, dass die Preise viel mehr als fünf Prozent zugelegt haben. Das gilt nicht nur für den Supermarkt. Vor allem die Preissprünge an der Tankstelle sind für mich fast unbezahlbar geworden", sagt sie. Deshalb stehe ihr Pkw fast nur noch. "Ich habe für zehn Euro Sprit im Tank. Den Wagen benutze ich nur noch für Notfälle. Das Leben ist insgesamt viel teurer geworden als fünf Prozent."  

Gefühlte Inflation bei 8,5 Prozent

An der Universität in Leipzig sitzt Gunter Schnabl an seinem Schreibtisch. Sein Blick wandert über mehrere Umfragen der Europäischen Kommission und unterschiedliche Erhebungen zur Inflation. Schnabl leitet das Institut für Wirtschaftspolitik. "Nach meinen Berechnungen liegt die gefühlte Inflation in Deutschland deutlich höher als die offizielle Zahl - nämlich bei rund 8,5 Prozent", erklärt der Wirtschaftswissenschaftler. "Dass viele Menschen die Teuerung viel stärker wahrnehmen, hat viele Gründe. Es stellt sich ein stärkeres subjektives Empfinden ein, wenn Preise anziehen, als wenn sie fallen. Hier spielen auch die Warengruppen eine wichtige Rolle. Werden Güter des täglichen Bedarfs teurer - etwa Lebensmittel - wird das stärker empfunden."

Zudem sei das Kaufverhalten individuell und damit sehr unterschiedlich. Wer etwa auf das Auto angewiesen sei und lange Strecken fahren müsse, habe bei steigenden Benzinpreisen deutlich höhere Ausgaben als ein Fahrradfahrer in der Stadt.

Nach Schnabls Einschätzung sind von der massiven Teuerung vor allem Menschen mit einem kleinen Einkommen und Sozialhilfeempfänger betroffen. "Diese Menschen leben von der Hand in den Mund. Ihr Budget geht vor allem in den täglichen Konsum. Wenn überhaupt, haben einige ein kleines Sparguthaben, das bei Nullzinsen und der hohen Inflation auch noch entwertet wird."

Zweifel an der offiziellen Inflationsrate

Welche Zahl ist aber nun korrekt: die offizielle Angabe des Statistischen Bundesamtes oder die gefühlte Rate? Für Schnabl bildet der Warenkorb für die Berechnung der Inflation zwar weitgehend das Konsumverhalten der Bürger ab. "Es gibt aber unterschiedliche Verfahren der Inflationsmessung - sowohl im Euroraum als auch in Deutschland. Ein umfassendes Bild geben nur unterschiedliche Inflationsindikatoren zusammen. Die offiziell ausgewiesene Inflationsrate ist nur eine grobe Orientierungsmarke, die nicht für alle gleichermaßen gilt." Das zeigen auch Umfragen der EU-Kommission. Danach ist die gefühlte Inflation im Euroraum deutlich höher als die von der EU-Statistikbehörde Eurostat ausgewiesene.

Schnabl sieht verschiedene Probleme bei der offiziellen Inflationsmessung. Ein Beispiel: Die seit vielen Jahren stark steigenden Preise für Wohnimmobilien würden von Eurostat gar nicht erfasst. "Für einen erheblichen Teil der Bevölkerung ist das Eigenheim unerschwinglich geworden. Die Preise von eigengenutzten Wohnimmobilien werden bei der offiziellen Inflationsmessung jedoch einfach ausgeklammert. Das verzerrt die offiziellen Zahlen spürbar. Das ist nicht nachvollziehbar."

Inflation steigt noch weiter

Die anhaltend lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die Folgen der Corona-Pandemie und jetzt noch der russische Krieg in der Ukraine: Schnabl schaut mit Sorge auf 2022. "Die EZB hat zuletzt 3,2 Prozent Teuerung prognostiziert. Ich gehe eher von sechs bis sieben Prozent bei den offiziellen Inflationsraten aus. Die gefühlte Inflation dürfte nochmals deutlich darüber liegen." Sollte die EZB an ihrer sehr lockeren Geldpolitik festhalten, steuere der Euroraum und damit auch Deutschland auf eine anhaltend hohe Inflation zu. Schnabl warnt: "Eine stabile Währung war in Zeiten der D-Mark die Grundlage für Wachstum und Wohlstand in Deutschland. Mit solchen Inflationsraten wie zuletzt wird die Mittelschicht auf Dauer ausgehöhlt."

In Koblenz ist Veronika Erol auf dem Rückweg vom Einkaufen: "Im Sommer wurde noch gesagt, die Inflation sei nur vorübergehend. Dabei geht es immer weiter. Ich mache mir Sorgen, dass die Teuerung dauerhaft anhält." In den vergangenen zwei Jahren hatte die Pandemie die Suche nach einem neuen Job erschwert. Im März will Erol mit dem Lkw-Führerschein beginnen und so raus aus der Arbeitslosigkeit kommen. "Ich muss und möchte auch wieder etwas verdienen und über mehr Geld verfügen. Ich fürchte, die Inflation bleibt, und das Leben wird immer teurer."