
Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg Zaudern, zögern, zagen
Die Ampel-Koalition kann schwer leugnen, dass sie nicht nur bei den Waffenlieferungen in die Ukraine vor allem als Verhinderer gilt. Doch das Zaudern ist gefährlich - auch für Deutschland.
Es war ein großes Wort, vielleicht das größte, das der Kanzler je in den Mund genommen hatte: "Zeitenwende" lautete es. Und Olaf Scholz gebrauchte es, um zu signalisieren: Im Umgang mit Russland ist künftig nichts mehr so, wie es war. Es folgten weitere große Kanzler-Worte: "Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen" oder "Die Menschen in der Ukraine kämpfen für Freiheit und Demokratie."
Doch wenn Scholz sieht, dass die Freiheit nicht mehr weit weg am Hindukusch, sondern mitten in Europa verteidigt wird. Wenn offensichtlich geworden ist, dass Putin einen auf Vernichtung ausgerichteten Krieg gegen unschuldige Ukrainerinnen und Ukrainer führt. Wenn klar ist, dass ein imperialistisch-autoritär-kriegsverbrecherisches Russland im Falle eines Sieges noch dichter an die NATO-Grenzen heranrücken und auch Deutschland bedrohen würde: Warum zögert, zaudert, zagt die Bundesregierung dann noch?
Sinn und Unsinn der "Marder"-Debatte
Trotz ihrer selbstverordneten Geheimhaltungs-Strategie kann die Ampel schwer leugnen, dass sie bei den Waffenlieferungen vor aller Welt eher als Verhinderer denn als Ermöglicher dasteht. Tagelang wurde in Deutschland über Sinn oder Unsinn einer Abgabe des Schützenpanzers "Marder" debattiert. Das ist ein viel verhängnisvolleres Versäumnis als die Tatsache, dass Scholz dieses Wochenende nicht symbolträchtig nach Kiew reiste. Derweil liefern mit deutlich sensibleren Bedrohungsantennen ausgestatteten NATO-Bündnispartner in Osteuropa - Tschechien, die Slowakei, Polen - der Ukraine das ersehnte schwere Gerät.
Den Widerspruch, Putins Staatskasse mit täglich im Schnitt rund 400 Millionen Euro für Energielieferungen zu füllen, während russische Soldaten ukrainische Zivilisten exekutieren, hat sich die Bundesregierung entschieden, auszuhalten. Um die heimische Industrie nicht zu peinigen und den Arbeitsmarkt zu schonen, scheut sie den - zugegeben schmerzhaften - Schritt eines Öl- und Gasboykotts. Dass aber Berlin selbst bei dem von der EU vor wenigen Tagen beschlossenen Kohle-Embargo noch bremste und die Übergangsfrist zu dehnen suchte, ramponiert dessen Ruf weiter.
Deutsche Halbherzigkeit
Selbst bei der altehrwürdigen "New York Times" reibt man sich verwundert die Augen angesichts der deutschen Halbherzigkeit: Paul Krugman, einer der weltweit angesehensten Wirtschaftswissenschaftler, wies in einem großen Leitartikel darauf hin, dass Deutschland zu Zeiten der Finanzkrise den südeuropäischen EU-Partnern einschneidende Opfer abverlangte - Opfer, die es selbst aber im Fall des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine nicht zu bringen bereit ist.
Für einen kurzen Moment, in den Tagen nach der "Zeitenwende"-Rede, sah es so aus, als habe Berlin verstanden. Als würde Europa die Führung, die es in Deutschland zu bestellen jahrelang gar nicht gewagt hatte, nun bekommen - um ein weiteren Scholz-Satz zu bemühen. Doch schon nach wenigen Wochen scheint in der Bundesrepublik wieder das wohlbekannte Zaudern eingesetzt zu haben. Was angesichts einer bevorstehenden russischen Offensive unmittelbar gefährlich für die Ukraine ist, langfristig aber auch für Deutschland selbst. Einen Rückfall in Vor-"Zeitenwende"-Zeiten sollte der Kanzler um jeden Preis vermeiden.
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