Siegmar Faust
mittendrin

tagesthemen mittendrin Wenn Bürgerrechtler mit der Demokratie hadern

Stand: 28.09.2020 15:10 Uhr

Niemand muss ehemaligen Bürgerrechtlern und Dissidenten die DDR erklären. Und doch ziehen einige von ihnen heute Vergleiche zu früher.

Der Osten hat Grautöne. Nicht auf jede Frage gibt es eine Antwort und es kann sein, dass man ratlos zurückbleibt. St. Nikolai ist die größte Kirche der Niederlausitz. Ihr großer Backsteinturm überragt die Cottbuser Altstadt und DDR-Platte. Wo sonst der Pastor steht, liest heute Antje Hermenau aus ihrem Buch "Wie Sachsen die Welt sehen".

Sie hat einst die Grünen im Osten mitgegründet - saß im Bundestag und führte die sächsische Landtagsfraktion. Mittlerweile hat sie ihre Partei verlassen und verspürt keine Berührungsängste mit AfD und Rechtspopulisten - redet regelmäßig mit ihnen, auch auf Veranstaltungen. Sie beginnt in breitem Sächsisch und wird auch im brandenburgischen Cottbus verstanden, denn ostdeutsche Identität verbindet. Und auch das Gefühl, in eine Ecke gestellt zu werden.

"Failed State. Nazis. Abgehängt. Pack."

Die Stichworte schleudert Hermenau dem Publikum entgegen: "Failed State. Nazis. Abgehängt. Pack." Gut 40 Gäste stimmen schweigend zu. Sie verlieren sich mit Corona-Abstand in der großen Kirche, der Altersdurchschnitt ist hoch. Etwas wabert an diesem Abend durch die Kirche. Ein Gefühl, die DDR ist zurück, irgendwie - zumindest ein Teil.

Ein Gefühl, das sagt, es sei gefährlich geworden, die Meinung zu sagen. "Ich glaube auch nicht, dass die meisten Menschen Interesse daran haben, wieder in einer Zeit zu leben, in der sie eben nicht frei ihre Meinung bilden und äußern dürfen", sagt Hermenau. "Aber das müssen wir jetzt markieren, dass das das ist, was wir wollen."

Antje Hermenau

"Wie Sachsen die Welt sehen": Antje Hermenau liest aus ihrem Buch.

Faust wählt die AfD

Siegmar Faust begrüßt die Leute herzlich. Wo er politisch steht, verschweigt er nicht. Er wählt die AfD. Der Westen hat ihn in den 1970ern freigekauft. Er ging sofort nach West-Berlin, da lebt er noch immer. In seiner kleinen Wohnung im Regal: Hegel, Kant, Adorno. An der Wand viel Kunst. Als er in den Westen kam, gefiel ihm die bunte Welt. Und heute nennt er den Islam eine "Welteroberungsideologie".

Von Multikulti will er nichts hören. Der belesene Faust kann richtig vulgär werden. "Ich will das nicht hier haben. Was kommt denn raus, wenn man alle Farben mischt. Das ist braun. Und das ist Scheiße!" Faust wird laut, wenn er wegen solcher Sätze in eine Ecke gestellt wird. Oder wenn jemand die AfD rechtsextrem nennt. Denn wäre dem so, wäre die Partei womöglich verboten und ihre Politiker vor Gericht - davon ist Faust überzeugt.

"In die falsche Richtung"

Auch Faust sagt, die Meinungsfreiheit werde eingeschränkt. Nein, es handele sich noch nicht um eine neue DDR. Aber, es "kommen manchmal Gefühle hoch, die man schon hatte in der Diktatur. Dass man selbst so ein bissel ängstlich wird. Dass manches in der Entwicklung in die falsche Richtung geht."

Er ärgert sich, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel oder Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Westen Karriere gemacht haben. "Die, die überhaupt keinen Widerstand geleistet haben in der Diktatur. Wie kommen die plötzlich in solche Führungspositionen?" Merkel missachte die Gesetze. In der Flüchtlingspolitik oder beim Atomausstieg. "Wissen Sie, so etwas ist Diktatur. Das ist gegen das Volk."

Von Polizei abgeführt

Angelika Barbe geht noch weiter. In der DDR hat sie die Sozialdemokratische Partei gegründet, wechselte dann später zur CDU. Heute demonstriert sie regelmäßig gegen die Corona-Politik und wurde neulich von der Polizei auf dem Berliner Alexanderplatz abgeführt. Ein Video davon landete in den Sozialen Netzwerken, ergänzt von mehreren Interviews mit Barbe.

Sie sagt, die Grundrechte würden eingeschränkt und schimpft. "Das ist jetzt schon wie DDR. Ich sehe keinen Unterschied mehr zwischen den Regierenden der DDR - also diesen  Verbrechern - und der heutigen Regierung."

"Absoluter Mumpitz", sagt Werner Schulz. Der Bündnisgrüne und ehemalige Bürgerrechtler schüttelt den Kopf als er das Video sieht. Er kennt Barbe seit Langem. Gemeinsam waren sie 1989 beim Pankower Friedenskreis, einer kirchlichen Oppositionsgruppe. "Sie entwerten im Prinzip ihre eigene Biografie, wenn sie so etwas sagen. Wer heute sagt, es ist schlimmer als in der DDR, der kann von mir nicht mehr ernst genommen werden. Das ist unakzeptabel. Absolut unakzeptabel."

Die Verbitterung im Osten

Erklären kann das auch Schulz nicht. Aber was er erklären kann, ist eine Verbitterung im Osten. 1990 spürte er den Aufbruch, damals verhandelte er am Runden Tisch. Es ging um eine neue, demokratische DDR. Der Raum sieht heute fast noch genauso aus, nur irgendwie bunter. Schulz findet seinen alten Platz. Hier verhandelte er mit SED und Blockparteien, sah, wie ihnen die Macht aus den Händen rann und konnte die eigene Macht nur einen Augenblick festhalten. Denn damals schrieben sie eine neue Verfassung.

Doch der Wunsch nach Westgeld und schneller Einheit war stärker. Schulz hätte sich gewünscht, dass Ost und West gemeinsam etwas Neues lernen. Dass es eine Gründungslegende geben würde, stattdessen gab es einen Beitritt. "Der Zug zur Deutschen Einheit ist so rasant gefahren, dass viele mit ihrem Gepäck auf dem Bahnsteig stehengeblieben sind." Schulz hat lange gehadert, erzählt er. Aber in der Politik könne man eben nie alles durchsetzen. Er saß später lange für Bündnis90/Die Grünen im Bundestag und Europaparlament.

Werner Schulz

Werner Schulz: "Wer heute sagt, es ist schlimmer als in der DDR, der kann von mir nicht mehr ernst genommen werden."

Niemand fragt nach

In der Cottbuser Kirche spricht Antje Hermenau auch über einen Messerangriff. Ein Pakistaner hatte kurz vor ihrer Lesung einen Berufsschüler in der Straßenbahn niedergestochen. Er habe damit - so erzählt es Hermenau - seine Abschiebung verhindern wollen. Wahrscheinlich hat sie das irgendwo bei Twitter gelesen. Ob es wirklich so war, ist zumindest unsicher. Die Staatsanwaltschaft legt sich bei der Frage nach dem Motiv nicht fest. Aber niemand fragt nach.

Nach 90 Minuten lädt die Kirchengemeinde noch zu Salzstangen und Rotwein. Hermenau signiert ihr Buch und betont nochmal, dass es natürlich nicht wie in der DDR sei. Sie aber manchmal doch ein Déjà-vu habe. Eine Zuhörerin wird konkreter.

"Wir sind 1989 auf die Straße gegangen. Da haben wir unsere Meinungsfreiheit erkämpft. Und jetzt soll man wieder über die Dinge, die da geschehen schweigen." Und ihr Mann vergleicht die Medien von heute gar mit der Aktuellen Kamera. Ich frage: War die Aktuelle Kamera auch 1989 in der Kirche und hat sie befragt? Natürlich nicht. Ich ahnte schon vorher, dass der Abend mich ratlos zurücklassen wird.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichten die tagesthemen am 28. September 2020 um 22:15 Uhr.