Blumen liegen auf Stolpersteinen
mittendrin

Gedenken ohne Zeitzeugen Wie sieht die Erinnerungsarbeit der Zukunft aus?

Stand: 09.11.2023 11:34 Uhr

Vor 85 Jahren zerstörten Nationalsozialisten Synagogen, Läden und Wohnungen. Juden wurden misshandelt, ermordet und vertrieben. Wie kann daran erinnert werden, wenn es immer weniger Zeitzeugen gibt? Helfen digitale Medien?

Harry Raymon geht langsam die Kappelerstraße im rheinland-pfälzischen Kirchberg entlang. An vier im Boden eingelassenen Stolpersteinen macht der 97-Jährige Halt, wischt die kleinen Gedenktafeln mit einem Taschentuch ab und verharrt einige Minuten. Zu lesen sind die Namen seiner Eltern, seines Bruders und auch sein eigener. Die Familie von Harry Raymon hat den Terror der Nationalsozialisten überlebt, weil sie bereits 1936 aus Deutschland wegging - in die USA.

Harry Raymon war damals neun Jahre alt. Seine Mutter hatte eine düstere Vorahnung, ohne damals wissen zu können, was ihnen bald drohte. Die Anfeindungen nach der Machtübernahme der Nazis hatten damals schnell zugenommen. "Ich glaube, wir waren die erste Familie in Kirchberg, die weggegangen ist. Nicht jeder Jude hat daran gedacht, dass man weg muss. Hitler war ein Spuk, der auch wieder vergehen würde. Das war die allgemeine Einstellung."  

#mittendrin in Laufersweiler: Erinnerung an jüdische Vergangenheit

Axel John, SWR, tagesthemen, 08.11.2023 22:15 Uhr

Die Entscheidung zu gehen, hat der Familie von Harry Raymon wohl das Leben gerettet. Nach einigen Jahren in den USA ging Raymon als Schauspieler zunächst nach Frankreich. Dann kehrte er über Stuttgart nach Deutschland zurück, wo er seit den 1960er-Jahren in München lebt. Der 97-jährige ist aber immer wieder auch im Hunsrück, um als Zeitzeuge bei Veranstaltungen an die Verbrechen der Nationalsozialisten und das Schicksal von Juden in Deutschland zu erinnern. Diesmal trifft er eine Schülergruppe - gemeinsam mit einem ehemaligen Geschichtslehrer, der sich seit Jahrzehnten für die Erforschung der jüdischen Kultur im Hunsrück einsetzt.  

Harry Raymon schaut mit einer Gruppe Schülerinnen auf Smartphones

Harry Raymon spricht regelmäßig mit Schülerinnen und Schülern über die Verbrechen der Nationalsozialisten.

Mehr als 30 Jahre Forschungsarbeit im Hunsrück

In der Nachbargemeinde Laufersweiler schließt Christof Pies die Tür der ehemaligen Synagoge auf und geht durch das Erdgeschoss. "Früher war das hier der Gebetsraum, unten saßen die Männer, oben die Frauen und dort vorne wurde aus der Thora vorgelesen", erzählt Pies. Der 74-Jährige war früher Geschichtslehrer und hat in der früheren Synagoge ein Studienzentrum mit aufgebaut. "1985 wollte man das Gebäude, das viele damals nur das Ding nannten, einfach abreißen", erinnert sich Pies. "Dann aber wurde das Haus unter Denkmalschutz gestellt und wir haben Ende der 1980er-Jahre einen Förderkreis gegründet".

Ehemalige Synagoge Laufersweiler

In der ehemaligen Synagoge in Laufersweiler ist jetzt ein Studienzentrum.

Pies forscht bis heute zur Hunsrücker Lokalgeschichte des Landjudentums. Neben der Erinnerung an den Holocaust will er auch den jüdischen Kulturschatz in der Region bewahren. "Bei Umfragen denken 90 Prozent beim Wort Judentum an Holocaust, Verfolgung und Vergasung. Das entspricht ja leider auch den historischen Tatsachen. Aber die jüdische Kultur ist so schön und vielfältig. Das wollen wir auch zeigen."    

Das Interesse an Ausstellungen wächst seit Jahren, aber Antisemitismus gibt es trotzdem im Hunsrück. In der Region werden teils jüdische Friedhöfe geschändet. "Das macht diesen Gemeinden natürlich große Sorgen. Das muss nach religiösen Gesichtspunkten und Denkmalschutz-Gründen alles wieder aufgebaut und die Grabsteine instandgesetzt werden. Das sind die Probleme - bis heute." In Zukunft werde die weitere Forschungsarbeit nicht einfacher, so Pies. "In den vergangenen Jahrzehnten haben noch viele Zeitzeugen gelebt. Heute wird das leider im schwieriger." 

Christof Pies

Christof Pies forscht seit Jahren zur jüdischen Geschichte im Hunsrück.

QR-Codes statt Gedenktafeln

In nahegelegenen Kastellaun treffen Christof Pies und Harry Raymon gemeinsam eine Schülergruppe der Integrierten Gesamtschule. Der frühere Geschichtslehrer ist ihnen auch aus mehreren Projekten rund um das Judentum gut bekannt. Das große Interesse der Schüler gilt dem 97-jährigen Zeitzeugen. "Man hört viel im Geschichtsunterricht über die Zeit. Aber es ist auch nochmal was ganz anderes, wenn man eine Person vor sich stehen hat, die das alles erlebt hat", sagt etwa Cava Rosenbach bei der Begrüßung. Vergangenes ist plötzlich ganz präsent.    

Hier in der Stadt haben die Gesamtschule und Christof Pies einen Weg der Erinnerung geschaffen. Mit QR-Codes kann man sich über das Smartphone über die jüdische Geschichte und den Antisemitismus in Kastellaun informieren. Pauline Scherer unterhält sich lange mit Harry Raymon. "Das Wichtigste ist, dass dieses Geschichtsbewusstsein, dass es passiert ist und jetzt zu verhindern, dass es nicht mehr passieren wird."

"Wirklich vorstellen kann man sich das gar nicht"

Zwölf Stationen mit QR-Code gibt es in Kastellaun. Das Handy macht die Geschichte für Jugendliche anders erfahrbar. Auf ihrem Weg kommt die Gruppe an einen Platz, auf dem die frühere Synagoge stand. Heute erinnert ein Mahnmal an die Zerstörung durch die Nazis. Die Schüler zücken ihre Smartphones und erfahren schnell mehr über das frühere jüdische Gotteshaus an dieser Stelle. "Wirklich vorstellen kann man sich das gar nicht. Und jetzt zu wissen, dass es hier auch war, das ist schon ein komisches Gefühl", erzählt Jarne Härter nachdem er sich die Animationen auf seinem Handy angesehen hat.

Linn Jacobs ist von dem neuen Konzept überzeugt. "Es gibt in der jüngeren Generation nur wenige, die sich Tafeln am Wegesrand durchlesen. Smartphone haben alle mit dabei. Sie können das abscannen, sich alles durchlesen und sich dann auch so weiterbilden."

Vergangenes neu verstehen

Mit der neuen Technik kann der 97-jährige Harry Raymon wenig anfangen, mit den Schülern dagegen umso mehr. "Ich bin berührt davon, dass die jungen Leute sich mit dem Thema Antisemitismus beschäftigen und eine ganz klare Meinung dazu haben. Das war nicht immer so."  

Vergangenes neu verstehen mit digitalen Medien: Für Christof Pies ist das die Erinnerungsarbeit der Zukunft, für eine Zeit in der es keine Zeitzeugen mehr geben wird. "Die Schule ist der Ort, um Geschichte zu verstehen und daraus für die Zukunft zu lernen. Das gilt für uns alle - egal welcher Herkunft, Religion oder politischer Überzeugung. Wenn die Schule das nicht leistet, dann sehe ich schwarz für Deutschland."

Der Rundgang in Kastellaun endet für die Gruppe an vier Stolpersteinen. Darauf sind die Namen von Heinrich Seligmann und von Familie Löb eingraviert. Sie blieben damals in der Region, wurden 1942 deportiert und ermordet. Harry Raymon aber hat überlebt und erinnert die Jüngeren bis heute an den Holocaust.      

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 08. November 2023 um 22:15 Uhr.