Britische Polizisten patrouillieren in einem Viertel in London, in dem viele Jüdinnen und Juden leben

Juden im Vereinigten Königreich Das Gefühl, allein zu sein

Stand: 04.11.2023 08:52 Uhr

In Großbritannien hat die Zahl antisemitischer Vorfälle deutlich zugenommen. Zu Demonstrationen für die palästinensischen Gebiete gehen Zehntausende auf die Straßen. Viele Juden im Land zeigen sich schockiert.

"The Wiener Holocaust Library" in London ist die älteste Bibliothek und Studieneinrichtung zur Erforschung des Holocaust. In den vergangenen Tagen beschmierten Unbekannte ein Plakat, das am Zaun vor dem Institut aufgespannt war und schrieben "Gaza" darauf.

Mit Blick auf die Geschichte der Einrichtung ist dieser Vorfall besonders verstörend. Der Gründer, Alfred Wiener, hatte in Deutschland gelebt, bevor er vor den Nazis in die USA floh und nach dem Krieg nach London kam, um hier das Institut zu gründen. Er dokumentierte Antisemitismus und Rassismus in Deutschland und Europa. Alfred Wiener hatte seine Doktorarbeit im Fach Islamstudien geschrieben.

Hunderte antisemitische Vorfälle

Es ist nur einer von vielen antisemitischen Vorfällen, mit denen sich die Londoner Polizei derzeit beschäftigen muss. Die Zahl der registrierten Straftaten mit antisemitischem Hintergrund hat in London in den vergangenen Wochen deutlich zugenommen. Die Metropolitan Police teilte mit, dass es im Zeitraum 7. bis 27. Oktober 408 Vorfälle gegeben hat, im Vorjahreszeitraum gerade einmal 28.

Jüdische Schüler berichteten, dass sie auf dem Heimweg von der Schule geohrfeigt wurden, der Fernsehsender ITV zeigte ein Handyvideo, auf dem zu sehen ist, wie ein Auto an einer jüdischen Einrichtung vorbeifährt, eine Person im Wagen brüllt "free Palestine" aus dem heruntergelassenen Fenster.

An den vergangenen Wochenenden fanden in London immer wieder Demonstrationen statt, auf denen palästinensische Flaggen gezeigt wurden. Teilnehmer riefen "free, free Palestine". Zuletzt waren um die 100.000 Personen zu Protesten in London zusammen gekommen.

Noch sicher in London?

In einem Interview mit der Tageszeitung "Daily Telegraph" äußerte sich die israelische Botschafterin im Vereinigten Königreich, Tzipi Hotovely, zu den antisemitischen Vorfälle in Großbritannien. Sie erhalte Nachrichten aus Israel, in denen Freunde fragten, ob sie sich in London noch sicher fühlen könne, ob Juden sich noch sicher fühlen könnten in der britischen Hauptstadt.

Freunde sähen die gleiche dschihadistische Ideologie auf den Straßen Londons wie im Gaza-Streifen und sie wunderten sich, was hier vor sich gehe. Der Artikel ist überschrieben mit der Zeile: "Jewish people feel London is now less safe than Israel".

280.000 Jüdinnen und Juden leben in Großbritannien, etwa 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Hälfte von ihnen lebt in London. Vor Schulen, Synagogen und anderen jüdischen Einrichtungen im Norden sind verstärkt Polizeikräfte und private Sicherheitsdienste im Einsatz.

Vor einer jüdischen Schule in London (Großbritannien) steht ein Polizist

Vor vielen jüdischen Einrichtungen in Großbritannien wie dieser Schule in London stehen in diesen Tagen Polizisten.

Ein doppeltes Trauma

Der Herausgeber der in England publizierten Zeitung "Jewish Cronicle", Jake Wallis Simons, sagte, Juden durchlebten gerade ein doppeltes Trauma. Da sei zum einen noch der Schock nach den Attacken der Hamas in Israel. Das zweite Trauma sei verursacht durch die Reaktion in Großbritannien auf diese Ereignisse.

"Wir haben uns nicht vorstellen können, dass bevor das Blut in Süd-Israel getrocknet war, bereits palästinensische Fahnen geschwenkt würden. Es ist grundsätzlich nicht falsch, eine palästinensische Fahne zu schwenken, aber es kommt doch auf den Kontext an", sagte Jake Wallis Simons im Podcast "Media Confidential" mit Blick auf die Demonstrationen, auf denen viele nur auf die katastrophale Lage im Gaza-Streifen hinweisen wollten, aber eben auch Unterstützer der Terror-Organisation Hamas auftraten.

Dass es viele Hamas-Sympathisanten geben würde, habe er geahnt. Dass so viele auf die Straße gehen würden, haben jedoch bei vielen Juden das Gefühl entstehen lassen, allein zu sein.

Christoph Prössl, ARD London, tagesschau, 27.10.2023 16:43 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 28. Oktober 2023 um 06:45 Uhr.