Olaf Scholz
Analyse

Scholz' Regierungserklärung Nicht die Zeit für Attacken

Stand: 02.03.2023 15:29 Uhr

Zurückhaltend im Ton, klar in seiner Position für die Ukraine: Kanzler Scholz hat Kiew weitere Unterstützung zugesagt. Ansonsten überraschte er durch viele freundliche Worte - auch für Oppositionschef Merz.

Eine Analyse von Kristin Becker, ARD Berlin

Grau liegt der Bundestag am Morgen in leichtem Nebel. Kein eisigblauer Himmel mit fast höhnischem Sonnenschein wie vor einem Jahr, kurz nachdem Russland großflächig die Ukraine überfallen hatte. Damals gab es zur Regierungserklärung des Kanzlers eine Sondersitzung - erstmals in der Geschichte des Bundestags an einem Sonntag. Die Stimmung war angespannt und Olaf Scholz überraschte mit der großen Ansage, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr zur Verfügung stellen zu wollen.

Inzwischen sind die "Reden zur Zeitenwende" fast schon ein Genre geworden. Die Bundesregierung offeriert dazu auf ihrer Website ein eigenes Dokument, das bislang Scholz' Ausführungen vom 27.2.2022 und seine Europa-Rede in Prag vom vergangenen August enthält. Nun könnte eine weitere Rede hinzukommen - denn auch die Regierungserklärung ein Jahr danach trägt die Zeitenwende im Titel. Und fühlt sich doch sehr anders an.

Bundeskanzler Scholz betont Fortsetzung der Waffenlieferungen an die Ukraine in Regierungserklärung

Justus Kliss, ARD Berlin, tagesschau, tagesschau, 02.03.2023 20:00 Uhr

Zurückhaltung und wenig Emotion

Brechend voll war das Parlament damals, auch wenn coronabedingt noch Abstand angesagt war. Heute wirkt es leerer in den Reihen des Reichstags. Die Außenministerin und die Umweltministerin sind auf wichtigen Reisen, die Entwicklungsministerin kann aus privaten Gründen nicht anwesend sein. Die Familienministerin kommt erst nach Sitzungsbeginn und der Finanzminister noch später, er verpasst den Beginn der Kanzlerrede. Die sehr leise anfängt.

Fast flüstert Scholz, als er Tagebucheinträge der ukrainischen Autorin Yevgenia Belorusets von vor einem Jahr zitiert: "Jetzt ist die Zeit, tapfer zu handeln und gegen den Aggressor starke, wirksame Mittel zu finden. In meiner Fantasie spielen sich jetzt schon hundert Varianten ab, wie das alles aufhören kann, wie der Krieg endet, in diesem konkreten Moment."

Immer noch scheint das Kriegsende aber in weiter Ferne, auch wenn Scholz von "künftigen Sicherheitszusagen für die Ukraine" spricht, die ein Ende - irgendwann zumindest - implizieren. Es ist eine bedachte, ruhige Rede - mit wenig Emotion in der Präsentation und Zurückhaltung in der Selbstdarstellung. Stattdessen referiert Scholz in sachlichem Ton seine Positionen - gegen die russische Aggression, für die Ukraine. China fordert er auf, größeren Druck auf Russland auszuüben und keine Waffen zu liefern. Und er zählt auf, was seine Regierung seit einem Jahr so angeschoben hat in Sachen Waffenlieferungen, Sicherheitspolitik, Energieversorgung, Entlastungen. So viel Eigenlob muss sein.

Tina Hassel, ARD Berlin, zur Regierungserklärung von Scholz

tagesschau, tagesschau, 02.03.2023 20:00 Uhr

Viele Dankesworte

Ansonsten hat Scholz aber viele Dankesworte für andere dabei: für die Bundeswehr, für Ingenieure, Facharbeiterinnen, Handwerker, die den Energieumstieg mit möglich machen - und für Annalena Baerbock. Es klingt wie der Versuch, das nicht optimale Verhältnis zur Außenministerin zumindest öffentlich verbessern zu wollen. Und auch für Friedrich Merz und seine Oppositionsfraktion hat Scholz mehrfach freundliche Worte und Kanzlerdank.

Auf Krawall oder die nächste Überrumpelung ist Scholz heute offenkundig nicht aus, eher auf Versöhnliches - auch was Kritiker, Besorgte, Demonstranten jenseits des Bundestags angeht. Er verstehe "alle Bürger und Bürgerinnen, die nicht 'Hurra' schreien" beim Thema Waffenlieferungen". Entscheidungen darüber mache sich die Regierung "niemals leicht". Man werde immer darauf achten, "dass die NATO nicht zur Kriegspartei wird". Scholz formuliert aber ebenso klar: "Man schafft auch keinen Frieden, wenn man hier in Berlin 'Nie wieder Krieg' ruft - und zugleich fordert, alle Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen."

Viel Applaus für Merz

Den gefühlt meisten Applaus seiner eigenen Fraktion, aber auch von den Regierungsfraktionen, bekommt an diesem Tag aber Friedrich Merz, als er - ohne ihren Namen zu nennen - Sahra Wagenknecht von der Linken scharf kritisiert. Nicht nur wegen der Demonstration am Wochenende, sondern auch, weil sie in der ARD-Talksendung Hart aber fair russische Kriegsverbrechen in der Ukraine, vor allem Vergewaltigungen, relativiert hatte.

Darauf will nicht mal Dietmar Bartsch, der Chef der Linksfraktion, eingehen, der einige Redner später zur Verteidigung antritt. Merz hatte da schon süffisant wissen lassen, "es wäre doch ganz schön, wenn diese Kollegin an dieser Debatte mal teilnehmen würde". Von Wagenknecht aber ist an diesem Morgen nichts zu sehen im Plenarsaal.

Abgesehen davon steckt in der Rede des Unionsfraktionsvorsitzenden natürlich ausreichend Kanzlerkritik. Der China-Kurs sei unklar, Scholz' Besuch im Weißen Haus am Freitag intransparent und die Zeitenwende verschleppt: "Sie bleiben hinter den selbst gesetzten Ansprüchen ihrer Zeitenwende zurück, das muss in den nächsten Monaten besser werden, sonst wird es nicht gelingen."

Große Konfrontation bleibt aus

Doch die ganz große Konfrontation zwischen Oppositionsführer und Regierungschef findet heute nicht statt. Das ist vielleicht dem Anlass geschuldet - und dem Verhalten des Gegenübers. Nicht nur die Dankesworte des Kanzlers sind heute auffällig, Scholz hört aufmerksam zu, gerade auch als Merz spricht. Kein Aktenblättern, kein Handytippen.

Für Ausfälligkeiten sorgt vor allem AfD-Chef Tino Chrupalla, der mit antiamerikanischen Parolen und skurrilen Volten Russland in Schutz nimmt: "Aus diesem Krieg geht die Ukraine genauso als Verlierer hervor wie Russland. Es gibt wieder nur einen Gewinner, und dieser Gewinner, der heißt USA." Darauf ernsthaft einlassen will sich niemand in der Debatte. Auch wenn der Kanzler im Kopf schon in Washington sein dürfte. Das Treffen mit Joe Biden gilt als besonders wichtig - auch für die nächsten Schritte im zweiten Jahr der Zeitenwende.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten am 02. März 2023 tagesschau24 um 09:00 Uhr (live) sowie um 10:00 Uhr und die tagesschau u.a. um 14:00 Uhr.