Sarah-Lee Heinrich und Timon Dzienus
interview

Grüne Jugend an "Letzte Generation" "Arbeitskämpfe sind besser als Straßenblockaden"

Stand: 14.09.2023 11:37 Uhr

Die Spitze der Grünen Jugend tritt ab. Im Interview erklären Sarah-Lee Heinrich und Timon Dzienus, warum sie von Anfang an mit der Ampelkoalition gehadert haben und welches Angebot sie der "Letzten Generation" machen.

tagesschau.de: Als Bundessprecher der Grünen Jugend haben Sie die erste Hälfte der Ampelkoalition begleitet. Wie fällt Ihre Halbzeitbilanz aus?

Timon Dzienus: Bei uns ist nie eine richtige Ampel-Euphorie aufgekommen. Unsere Sorge war von Anfang an, dass die Koalition oft nur das tut, was vermeintlich möglich ist - und nicht das, was eigentlich notwendig wäre. Mit Blick auf die soziale Frage oder Klimaschutz muss man sagen: Da haben wir leider Recht behalten.

Sarah-Lee Heinrich: Die Ampel muss sich fragen: Was ist, wenn keiner mehr Bock auf Klimaschutz hat, weil Menschen das Gefühl haben, er macht sie ärmer? Das Vertrauen in den Klimaschutz ist heute niedriger als vor zwei Jahren. Die AfD und andere nutzen solche offenen Flanken schamlos aus.

Zur Person

Sarah-Lee Heinrich ist Jahrgang 2001 und stammt aus Nordrhein-Westfalen. Als Kind in Hartz IV aufgewachsen, wurde sie bereits als Jugendliche als Kritikerin dieses Systems bekannt.

Druck aus der Gesellschaft

tagesschau.de: In der Ankündigung zu Ihrem Bundeskongress im Oktober heißt es, man müsse "die Verteilungsfrage stellen" und eine "Massenbewegung" schaffen. Das wäre mit der Ampel doch selbst dann nicht möglich, wenn alles gut laufen würde?

Heinrich: Weil es die Bundesregierung nicht tut, müssen wir es auf die Tagesordnung bringen. Es geht darum, wie man die soziale Spaltung bekämpft. Nehmen wir das Heizungsgesetz: Ein Konzern wie Vonovia, der eine riesige Rendite abwirft, braucht keine Unterstützung, um Wärmepumpen einzubauen. Den Mietern sollte man aber doch versichern können, dass ihre Mieten dadurch nicht steigen werden. Die Ampel umschifft solche alltäglichen Verteilungsfragen. Das sehen wir auch beim Bafög. Dessen Erhöhung Anfang des Jahres reicht nicht aus. Viele Studierende werden in die Armut getrieben.

Dzienus: Mich ärgert, dass Teile der Bundesregierung so tun, als ob sie nichts für den Aufstieg der AfD können. Wenn ich sehe, dass im Kreis Sonneberg - wo ein AfD-Landrat gewählt wurde - 40 Prozent der Beschäftigten Mindestlohn beziehen und der Mindestlohn dann nur um 41 Cent erhöht wird, dann ist das blanker Hohn gegenüber allen Beschäftigten. Armutsgefährdung ist Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen.

Zur Person

Timon Dzienus ist Jahrgang 1996. Der Niedersachse sorgte für Kontroversen, als er vorschlug, die Privatinsel eines Fernsehmoderators zu enteignen, und das Linksextremismus-Verfahren im Fall Lina E. scharf kritisierte.

tagesschau.de: Im heutigen Bundestag sitzen so viele Mitglieder der Grünen Jugend wie noch nie. Sind die nicht zu leise für Ihre Ansprüche?

Heinrich: Der Beschluss des Sondervermögens für die Bundeswehr war für uns als Grüne Jugend mit einer wichtigen Erkenntnis verbunden. Da haben wir vor dem Reichstag protestiert - und drinnen haben die jungen Abgeordneten der Grünen trotzdem zugestimmt. Weil sie Partei, Fraktion und Koalition verpflichtet sind. Wir nicht. Darin sieht man, dass politische Veränderung nicht allein dadurch geschieht, dass ein paar richtige Leute im Parlament sitzen, sondern dadurch, dass eine Gesellschaft aufbegehrt. Umso stolzer bin ich über die verschiedenen sozialen Proteste, deren Teil wir waren und sind. Ohne diese hätte es kein drittes Entlastungspaket gegeben.

Vorgezogener Kohleausstieg

tagesschau.de: Auf dem Parteitag der Grünen vor einem Jahr wäre es Ihnen fast gelungen, die Forderung nach einem Moratorium für das Dorf Lützerath im Rheinischen Revier durchzusetzen. War das ein Erfolg oder doch eine Niederlage?

Dzienus: Alle Minister und die ganze Parteiführung haben sich damals dagegen ausgesprochen. Dennoch haben wir fast eine Mehrheit organisiert. Das hat auch unsere Möglichkeiten als Grüne Jugend gezeigt. Für uns als Klimabewegung ist das Abbaggern von Lützerath natürlich eine Niederlage. Denn bis heute bleiben Landes- und Bundesregierung eine Antwort auf die Frage, wie viel CO2 wirklich durch den vorgezogenen Ausstieg eingespart werden soll, schuldig.

Heinrich: Der Protest für Lützerath hat die Klimabewegung nach Corona wieder zusammengebracht. Und die Grüne Jugend ist darin weiter fest verankert - obwohl die Grünen in der Regierung sind.

tagesschau.de: Soll der Kohleausstieg 2030 auch in den ostdeutschen Revieren kommen?

Dzienus: Die Ampel ist in der Bringschuld, einen Weg für einen sozial gerechten Klimaschutz zu finden, der Hand in Hand damit geht, das Leben jener Menschen zu verbessern, die tagtäglich zur Arbeit gehen müssen. Es braucht einen deutlich vorgezogenen Kohleausstieg, der am Ende Paris-konform ist, also ausreichend CO2 einspart. Gleichzeitig braucht es aber auch Perspektiven für die Menschen vor Ort. Ein neues Werk oder eine weitere Behördenansiedlung sind allein nicht der große Wumms, der Zuversicht erzeugt und es schafft, der AfD in Sachsen und Brandenburg den Nährboden zu entziehen.

Bessere Bezahlung im ÖPNV

tagesschau.de: In den vergangenen zwei Jahren ist die Unterstützung für die Klimabewegung zurückgegangen. Vor allem, weil die Aufmerksamkeit bei der "Letzten Generation" und ihren umstrittenen Straßenblockaden lag. Warum sind Sie dort nicht als Vermittler aufgetreten?

Heinrich: Wir verstehen die Verzweiflung der "Letzten Generation" im Angesicht der Klimakrise, halten ihre Strategie aber für falsch. Die Menschen, die morgens mit dem Auto zur Arbeit fahren, sind unsere Verbündeten. Wir wollen auch sie für die Klimabewegung gewinnen und nicht abschrecken. Unsere Gegner sind große Konzerne, die auf dem Rücken von Klimaschutz und den Beschäftigten ihre Profite machen wollen. Und es ist eine Bundesregierung, die keinen sozial-gerechten Klimaschutz macht.

Dzienus: Die Akzeptanz für Klimaschutz sinkt weniger durch den notwendigen Protest, sondern weil Klimapolitik aktuell immer noch zu unsozial umgesetzt wird. Wir diskutieren die Erhöhung des CO2-Preises, vergessen aber das Klimageld, mit dem die Mehrheit der Menschen finanziell vom CO2-Preis profitieren würde. Christian Lindner will es wohl auch gar nicht mehr.

tagesschau.de: Lindner hat zuletzt gesagt, es kann 2024 eingeführt werden.

Dzienus: Ganz ehrlich: Ich glaube ihm nicht. Das Problem ist am Ende jedoch grundsätzlicher: Klimaschutz darf nicht damit verbunden werden, dass alles teurer wird. Fest steht: Die Ampel hat da beim Klimageld eine große Chance liegen gelassen. US-Präsident Joe Biden sagt: "Denke ich ans Klima, denke ich an Jobs." Da müssen wir auch in Deutschland hinkommen.

Heinrich: Als Klimabewegung haben wir jetzt im Herbst und Winter nochmal eine große Chance, wieder nach vorne zu kommen. Gemeinsam mit "Fridays for Future" und ver.di werden wir unter dem Motto "Wir fahren zusammen" wieder für eine Verdopplung von Bus und Bahn kämpfen - das bedeutet auch eine bessere Bezahlung der Beschäftigten. Klimaschutz darf nicht gegen ihre Interessen laufen. Für die Verkehrswende müssen wir mit den Busfahrern gemeinsam streiten.

"Offen für alle Teile der Klimabewegung"

tagesschau.de: Richtet sich das auch an die "Letzte Generation"?

Heinrich: Die Kampagne für Herbst und Winter ist offen für alle Teile der Klimabewegung.

Dzienus: Unsere Botschaft lautet: Arbeitskämpfe sind besser als Straßenblockaden. Wir wollen als Teil der Klimabewegung Aktionsformen finden, die arbeitende Menschen nicht gegen uns aufbringen, sondern für unsere gemeinsame Sache organisieren.

tagesschau.de: Ihre Amtszeit als Bundessprecher der Grünen Jugend endet mit dem Bundeskongress im Oktober. Eine Ihrer Vorgängerinnen, Ricarda Lang, ist heute Parteivorsitzende der Grünen. Andere sitzen im Bundestag. Sie sind 27 und 22 Jahre alt. Wie geht es weiter?

Dzienus: Mit Ausschlafen. Wir machen seit einigen Jahren ehrenamtliche Vorstandsarbeit und müssen beide erst einmal durchatmen. Dann überlege ich, wo ich künftig meinen Beitrag leiste, damit die Welt ein gerechter Ort wird. Es braucht Verbündete in Parlamenten. Es braucht eine starke Zivilgesellschaft. Es braucht Leute, die dazu beitragen, dass junge Menschen sich politisch engagieren.

Heinrich: Für mich geht es erst einmal weiter mit meinem Studium. Und ich werde auf jeden Fall weiterarbeiten am Schulterschluss zwischen der Klimabewegung und den Gewerkschaften - auch in der Grünen Jugend.

Das Gespräch führte Thomas Vorreyer, tagesschau.de