Thomas Haldenwang und Nancy Faeser

Lagebild des Verfassungsschutzes Antisemitismus in der Pandemie verstärkt

Stand: 20.04.2022 17:01 Uhr

Während der Corona-Pandemie hat sich der Antisemitismus in Deutschland laut Verfassungsschutz deutlich verstärkt. Verschwörungserzählungen, Holocaust-Verharmlosung und Israelkritik verbreiten sich demnach nicht mehr nur am politischen Rand.

Antisemitische Ideen dringen nach Einschätzung des Verfassungsschutzes weiter in die Mitte der Gesellschaft vor. Es sei "erschreckend, dass antisemitische Narrative mitunter bis in die Mitte der deutschen Gesellschaft anschlussfähig sind", sagte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, anlässlich der Veröffentlichung des aktuellen Lagebildes Antisemitismus.

Verschwörungserzählungen bei Corona-Protesten

Antisemitismus sei nicht mehr nur ein Phänomen am gesellschaftlichen Rand, sondern diene als "Bindeglied zwischen gesellschaftlichen Diskursen und extremistischen Ideologien", sagte Haldenwang. "Dies haben wir zunehmend bei den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen oder bei Kundgebungen zum Nahost-Konflikt gesehen und nehmen es aktuell auch vereinzelt im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wahr."

Dem Bericht zufolge entstanden während der Pandemie neue Formen des Antisemitismus. Es handele sich häufig um einen "codierten Antisemitismus", der "die Pandemie in eine verschwörungsideologische Argumentation einbettet". Dabei gehe es darum, "dass eine geheime, weltkontrollierende Macht die Pandemie als Instrument zur Umsetzung ihres Plans einer 'Neuen Weltordnung' nutzt".

Mit dem Beginn der Impfungen gegen Covid-19 Ende 2020 habe die mitunter antisemitisch gefärbte Agitation weiter an Bedeutung gewonnen. Impfgegner behaupteten demnach beispielsweise, Juden versuchten "nun auch mittels Impfungen, ihre Pläne zur Erringung der Macht über die Menschheit zu verwirklichen".

Hinzu kämen ein immer offener geäußerter israelbezogener Antisemitismus in allen Milieus sowie Angriffe auf die Erinnerungskultur. So würden "antisemitische Narrative" aufgegriffen, indem die nationalsozialistische Verfolgung der Juden sowie der Holocaust mit den staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung gleichgesetzt und damit verharmlost werden, etwa durch die Verwendung des gelben Sterns mit der Aufschrift "Ungeimpft".

Internet als "Dynamisierungsfaktor"

Auch die seit Jahren anhaltende Verlagerung von antisemitischer Agitation in den digitalen Bereich wurde dem Lagebild zufolge durch die Pandemie verstärkt. Das Internet biete "eine Vielzahl von Möglichkeiten, rechtsextremistisches und antisemitisches Gedankengut bis hin zu terroristischen Gewaltfantasien und Planungen vergleichsweise ungestört auszutauschen und zu verbreiten", heißt es in dem Bericht.

"Das Internet dient als Nährboden und stellt einen wesentlichen Dynamisierungsfaktor im aktuellen Antisemitismus dar", erklärte Haldenwang. Neben bestimmten rechtsextremistischen Internet-Plattformen und Foren werde auch der Messengerdienst Telegram "auffällig häufig für die Verbreitung antisemitischer Beiträge genutzt". Er trage damit "zur Verfestigung eines antisemitischen Weltbilds zumindest innerhalb seiner Nutzerschaft bei".

Hohe Dunkelziffer bei Straftaten vermutet

Die in der Polizeistatistik aufgeführte Zahl antisemitischer Straftaten steige kontinuierlich an, sagte Haldenwang. Es sei aber davon auszugehen, dass hier lediglich "die Spitze des Eisbergs" sichtbar werde. "Wesentlich größer ist das Dunkelfeld, also diejenigen Vorfälle, die aus verschiedenen Gründen gar nicht erst zur Anzeige gebracht werden". Im Jahr 2020 waren von den Polizeibehörden bundesweit 2351 antisemitische Straftaten registriert worden - ein Anstieg um mehr als 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Der Bericht des Verfassungsschutzes beleuchtet ausschließlich Antisemitismus in seinen verfassungsschutzrelevanten Ausprägungen. Er wurde erstmals im Juli 2020 vorgestellt. Die damalige Bewertung, dass der Antisemitismus in allen extremistischen Phänomenbereichen anzutreffen ist, behalte seine Gültigkeit, hieß es in der Erklärung.

Ideologischer Eckpunkt im Rechtsextremismus

Die größte Relevanz habe der Antisemitismus weiterhin im Rechtsextremismus, wo er zu den ideologischen Eckpunkten zähle, heißt es im Bericht. Der Verfassungsschutz kommt insgesamt zu dem Schluss, dass die Partei Die Rechte "von allen rechtsextremistischen Parteien ihren Antisemitismus am offensten propagiert".

Im Lager der sogenannten Neuen Rechten seien unterschiedliche Positionen erkennbar. Eine Gruppe sehe sich "in einer christlich-jüdischen Tradition" stehend, die es gegen den Islam und den Islamismus zu verteidigen gelte. Eine andere Gruppe sei israelkritisch und sehe den "ideologischen Hauptfeind" stärker im Liberalismus als im Islamismus.

Auch das von Islamisten verbreitete antisemitische Gedankengut stelle "eine erhebliche Herausforderung für das friedliche und tolerante Zusammenleben in der Bundesrepublik dar". Eine Häufung antisemitischer Vorfälle im Mai 2021 zeuge zudem davon, dass insbesondere eine Eskalation des Nahost-Konflikts auch in Deutschland "zu einer erheblichen Emotionalisierung der muslimischen Bevölkerung bis hin zu gewaltsamen Angriffen führen kann".

Faeser will Kampf gegen Antisemitismus verstärken

Bundesinnenministerin Nancy Faeser versprach mehr Schutz von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Es sei eine "Schande für unser Land, wie viel antisemitische Hetze und Menschenverachtung auch heute verbreitet" würden. Es sei "beschämend, wie der Völkermord an den europäischen Juden von manchen Corona-Leugnern, die sich einen gelben Stern anheften, verharmlost wurde".

Die SPD-Politikerin forderte, antisemitische Straftaten "mit großer Entschiedenheit" zu verfolgen. Der Kampf gegen Antisemitismus sei auch eine "Aufgabe für uns als Gesellschaft", erklärte sie. "Wir wollen deshalb politische Bildung und Extremismusprävention massiv stärken - auch um oftmals antisemitischen Verschwörungsmythen den Nährboden zu entziehen."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 20. April 2022 um 16:00 Uhr.