Eine Frau steht vor einem Frauenhaus.
interview

EU-Richtlinie zum Schutz vor Gewalt "Es ist wirklich ein Skandal"

Stand: 07.02.2024 14:54 Uhr

Unter anderem Deutschland hat blockiert, dass es EU-weit einheitliche Standards für den Straftatbestand Vergewaltigung gibt. Aktivistin Kristina Lunz hatte einen offenen Brief an den Justizminister initiiert. Im Interview zeigt sie sich enttäuscht.

tagesschau24: Sie wollten, dass die Bundesregierung eine Verschärfung der EU-Richtlinie zum Schutz gegen Frauen beim Thema Vergewaltigung zustimmt. Dazu ist es nicht gekommen - unter anderem Deutschland war dagegen und gab als Grund rechtliche Bedenken an. Können Sie das nachvollziehen?

Lunz: Ich kann die Bedenken natürlich nachvollziehen. Ich kann aber nicht nachvollziehen, dass es keine Bereitschaft vom deutschen Justizminister und der Bundesregierung gab, entsprechend andere Ausführungen und Gutachten anzuerkennen.

So widersprechen beispielsweise das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und unterschiedliche Menschenrechtsorganisationen oder juristische Vereinigungen wie der Deutsche Juristinnenbund den Ausführungen und den rechtlichen Bedenken von Marco Buschmann, der FDP und der Bundesregierung.

Kristina Lunz, Centre for Feminist Foreign Policy, zur Blockade Deutschlands gegen Verschärfung der EU-Richtlinie zum Schutz von Frauen beim Thema Vergewaltigung

tagesschau24, 07.02.2024 11:00 Uhr

"So allgegenwärtig und so eine Normalität"

tagesschau24: Wie erklären Sie sich, dass es EU-weit nicht möglich ist, auf einen Konsens zu kommen, wenn jede 20. Frau in Europa eine Vergewaltigung erlebt?

Lunz: Es ist wirklich ein Skandal. Die Zahlen sind immens. Laut Schätzungen der UN werden jedes Jahr in der EU 1,5 Millionen Frauen vergewaltigt.

Die Gewalt, die Frauen in unserer Gesellschaft erfahren, ist so allgegenwärtig und so eine Normalität, dass auch noch in Strukturen in Politik, in Ministerien wie dem Justizministerium, aber auch in anderen Ländern der EU diejenigen, die in der Position wären, etwas zu ändern, sich an teilweise alten Mythen oder Vorstellungen festhalten und nicht den politischen Willen zeigen, dagegen vorzugehen.

Die Verhandlerinnen gestern bei der Pressekonferenz waren sehr deutlich in ihren Worten. Sie haben gesagt, dass es schockierend war, in den Monaten der Verhandlungen zu sehen, welche Vorstellungen bezüglich Vergewaltigung in vielen Köpfen derjenigen noch vorhanden sind, die in den Verhandlungen mitsprechen können.

Kristina Lunz
Zur Person

Kristina Lunz ist Mitbegründerin des Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP) in London und Berlin. Sie setzt sich für eine feministisch geprägte Außenpolitik ein. 2022 veröffentlichte sie das Buch "Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch. Wie globale Krisen gelöst werden müssen".

Lunz hat Ende Januar einen offenen Brief von 100 prominenten Frauen an Justizminister Marco Buschmann initiiert. Darin wurde der FDP-Politiker aufgefordert, seine Blockadehaltung bei der EU-Richtlinie zum Schutz von Frauen vor Gewalt aufzugeben.

"Ein historischer Schritt wurde verpasst"

tagesschau24: Und genauso wurde ja argumentiert: dass in vielen EU-Staaten rechtlich gesehen eine Vergewaltigung nur dann angenommen wird, wenn die Täter konkret Gewalt anwenden oder androhen. Was genau setzen Sie dem entgegen?

Lunz: Es ist wirklich erschreckend, dass wir im Jahr 2024 noch die Vorstellung haben, die komplett gegen die Realität geht, dass das Opfer einer Vergewaltigung - und in den allermeisten Fällen sind das Frauen - sich körperlich wehren müsste gegen den Vergewaltiger. Wenn wir aus der Realität, aus unzähligen Fallbeispielen wissen, dass die Opfer ganz oft auch in eine Art Starre verfallen, um den Akt einfach über sich ergehen zu lassen. Oder dass in nahen Beziehungen, wo das Opfer den Täter kennt, diese Gegenwehr auch oft nicht erfolgt.

Eine Richtlinie, die Mindeststandards setzt, wie es eben diese Richtlinie tun sollte, müsste der Realität entsprechen und endlich nachhaltig einen Versuch unternehmen, männlicher Gewalt gegen Frauen wirklich etwas entgegenzusetzen.

Die Vereinheitlichung des Vergewaltigungsstraftatbestandes über die EU hinweg wäre ein so wichtiger historischer Schritt gewesen. Und der wurde gestern verpasst - aufgrund von Staaten wie Deutschland, Frankreich und Ungarn.

"Keine Bereitschaft, mit uns zu sprechen"

tagesschau24: Hat Bundesjustizminister Buschmann sich denn auch persönlich an Sie als Initiatorin des offenen Briefs gewandt?

Lunz: Herr Buschmann hat es vorgezogen, uns - und das sind inzwischen über 150 prominente Frauen aus Kultur, Politik und Wirtschaft - zu ignorieren. Es gab unterschiedliche Versuche, auch vor dem offenen Brief schon das Gespräch zu suchen, einen Termin bei ihm und seinem Team zu bekommen, die in einem Fall abgesagt und danach verwehrt wurden.

Nein, es gab nicht die Bereitschaft, mit uns zu sprechen. Es gab nicht die Bereitschaft, mit den Expertinnen wie vom Deutschen Juristinnenbund ins Gespräch zu kommen und es zu akzeptieren und darauf einzugehen, dass es auch andere juristische Ausführungen gibt, hinter denen ja auch mehr als zehn andere EU-Staaten stehen - und die Kommission und das Parlament.

Wenn der politische Wille da gewesen wäre, dann hätte der deutsche Justizminister sich anders verhalten und anders abstimmen können.

"Wir werden dranbleiben"

tagesschau24: Unterstützung haben sie dennoch. Wie geht es weiter?

Lunz: Wir werden auf jeden Fall dranbleiben. In der Richtlinie wurde aufgenommen, dass es in fünf Jahren eine Revision geben soll. Da werden wir unsere Expertise wieder einbringen.

Darüber hinaus stehen auch in nächster Zeit sehr wichtige feministische, frauenrechtspolitische Themen auf der Agenda. In wenigen Wochen wird beispielsweise die Kommission zum Schwangerschaftsabbruch ihre Empfehlungen vorlegen. Und auch hier werden wir wieder unsere Stimme ergreifen und klar machen, dass für eine gleichberechtigte, demokratische Gesellschaft die Rechte und die Selbstbestimmung von Frauen nicht eingeschränkt werden dürfen.

Das Gespräch führte Damla Hekimoğlu, tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Version gekürzt und redigiert.