
Lockerungen in Corona-Krise Kritik an 50er-Obergrenze
Stand: 08.05.2020 16:14 Uhr
Die Kritik an der Obergrenze für Neuinfektionen wächst - auch Ärzte in Gesundheitsämtern fürchten, dass der Wert von 50 pro 100.000 Einwohnern zu hoch angesetzt ist. Inzwischen sind drei Landkreise bekannt, die ihn überschreiten.
In Deutschland mehren sich die Stimmen, die die in den Lockerungsplänen von Bund und Ländern vereinbarte Obergrenze für Corona-Neuinfektionen als zu hoch kritisieren. Länderchefs und Regierung hatten sich darauf verständigt, dass Beschränkungen wieder verschärft werden sollen, wenn sich in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt mehr als 50 Menschen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen neu infizieren - dann könnte es aber schon zu spät sein, befürchten Kritiker.
Berlin will Notbremse strenger auslegen
So sagte etwa die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci im rbb, es sei viel zu spät, erst bei 50 Corona-Neuinfektionen innerhalb einer Woche auf die Bremse zu treten. Sie verwies auf die Erfahrungen aus der ersten Krankheitswelle im Frühjahr. "Wir hatten 260 Neuinfektionen in der Woche, als wir die ersten Einschränkungen beschlossen haben", sagte sie. "Und danach haben wir die Spitze gesehen, und da war dieser Faktor bei 37." Berlin stehe jetzt vergleichsweise gut bei den Corona-Zahlen da, weil deutlich früher durchgegriffen worden sei, so die SPD-Politikerin. Das Land werde die Notbremse bei Neuinfektionen daher strenger auslegen.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil will ebenfalls nicht warten, bis die Zahl von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner erreicht ist. "Für Niedersachsen habe ich da wirklich deswegen zustimmen können, weil ich weiß, wir würden im Zweifel sehr viel früher gemeinsam mit den Kommunen uns anschauen, was da los ist", sagte er in der ZDF-Sendung "Maybrit Illner".
"Das ist nicht zu schaffen"
Große Bedenken hat der Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. "Wie die Gesundheitsämter damit klar kommen sollen, ist mir ein Rätsel", sagte die Verbandsvorsitzende Ute Teichert dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. "Das ist nicht zu schaffen." Ohne dauerhafte Personalunterstützung würden die Ämter "in die Knie gehen", warnte sie. "Die Zahl 50 ist eine mir nicht bekannte Zahl. Uns ist schleierhaft, wo sie herkommt." In den vergangenen Wochen hätten die Gesundheitsämter die Arbeit nur geschafft, weil das Personal unter anderem durch Medizinstudenten und viele Freiwillige verdrei- bis vervierfacht worden sei. "Und dennoch sind alle Mitarbeiter der Gesundheitsämter in den vergangenen Wochen auf dem Zahnfleisch gekrochen."
Ute Teichert, Vors. Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, kritisiert Obergrenzen
tagesschau24 15:00 Uhr, 08.05.2020
Ähnliche Sorgen hatte schon gestern der Epidemiologe und Institutsdirektor der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, Rafael Mikolajczyk, geäußert. Viele der Überlegungen seien sicherlich nachvollziehbar, sagte er. "50 Neuinfektionen pro 100.000 pro Woche erscheint allerdings weit über den derzeitigen Kapazitäten der Gesundheitsämter." Diesen Wert von vorneherein festzuschreiben, hält er für falsch. "Vielmehr geht es darum, dass möglichst alle Fälle und deren Kontakte in einer Region durch die Gesundheitsämter identifiziert und isoliert werden können." Das hänge von den lokalen Kapazitäten ab.
"Dann brennt der Dachstuhl lichterloh"
Kanzleramtsminister Helge Braun sagte den Landkreisen derweil Solidarität zu. Kein Landkreis müsse sich alleingelassen fühlen, wenn die Corona-Infektionszahlen wieder steigen sollten, sagte er bei "Maybrit Illner". Es gehe nicht darum, jemandem zu sagen, dass dessen Zahlen zu hoch seien. "Sondern um einfach deutlich zu machen, wenn wir irgendwo in Deutschland ein Problem haben, lösen wir das solidarisch - wir kommen zum Testen, wir kommen zur Kontaktnachverfolgung, wir arbeiten alle daran, dass so etwas wie Heinsberg oder Ischgl nicht wieder ein deutschlandweites Problem wird."
Braun selbst hätte sich dennoch eine niedrigere Schwelle gewünscht, um die Notbremse bei den Corona-Lockerungen zu ziehen. Er habe für eine Obergrenze von 35 Neu-Infektionen auf 100.000 Einwohner plädiert, so der CDU-Politiker.
"Die 50 ist schon relativ hoch. Also wenn man das auf eine Stadt wie Hamburg oder Berlin mal hochrechnet, das muss jedem klar sein: Das ist nicht so, dass wir da urplötzlich anfangen, uns irgendwo einzumischen, wo man eigentlich alle in Ruhe lassen sollte. Sondern da muss die Feuerwehr kommen, denn dann brennt der Dachstuhl lichterloh."
Braun warnte er davor, aus Angst vor neuen Beschränkungen weniger zu testen. Im Fall des Coronavirus komme man damit nicht unbemerkt durch, sagte der Kanzleramtsminister. Und: Am Ende drohten überforderte Krankenhäuser.
Drei Kreise überschreiten Obergrenze
Bisher gibt es in Deutschland drei Kreise, die die festgelegte Obergrenze überschreiten. Nach dem Landkreis Greiz in Thüringen wurde dies heute auch von zwei Regionen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Hostein bekannt. Im Kreis Coesfeld liegt die Zahl der Neuinfektionen in einer Woche pro 100.000 Einwohnern nach Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) bei 52,7. Das Virus hatte sich zuletzt vor allem in dem fleischverarbeitenden Betrieb Westfleisch in Coesfeld ausgebreitet. Der Landkreis reagierte - und verschob die meisten Lockerungen um eine Woche. Der betroffene Schlachthof wurde vorübergehend geschlossen.
Corona-Infektionen bei Schlachthof-Arbeitern im Kreis Coesfeld
tagesschau 17:00 Uhr, 08.05.2020, Carsten Schabosky, WDR
Auch der schleswig-holsteinische Kreis Steinburg liegt mit 87 bestätigten aktuellen Fällen über der festgelegten Schwelle. Der Grenzwert für den Kreis mit 131.000 Einwohnern liegt nach Behördenangaben bei 66 Neuinfektionen. Die meisten Infizierten sind Beschäftigte eines Schlachthofs im benachbarten Kreis Segeberg. Ein Großteil der Ausländer, die dort arbeiten, sind auf dem Gelände einer Kaserne im Kreis Steinburg in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht.
Mit Informationen von Cecilia Reible, ARD-Hauptstadtstudio
Kritik an Corona-Obergrenze
Cecilia Reible, ARD Berlin
08.05.2020 14:28 Uhr
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