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TikTok Brutale Kriegsbilder statt lustiger Videos

Stand: 09.03.2022 16:55 Uhr

Auf TikTok werden Hunderte Videos vom Krieg in der Ukraine veröffentlicht. Darunter sind zahlreiche Aufnahmen, die alt sind oder von anderen Konflikten stammen - und dennoch große Reichweite generieren.

Von Carla Reveland, Redaktion ARD-faktenfinder

Videos, mit dem Hashtag #Ukraine, wurden innerhalb von wenigen Tagen mehr als 22 Milliarden Mal gesehen. Jede Minute kämen eine Million weitere Aufrufe hinzu, schreibt der britische Journalist Chris Stokel-Walker. Die Videoplattform TikTok ist im Krieg in der Ukraine zu einer wichtigen Informationsquelle und Austauschplattform für Videos und Bilder geworden.

Ob Videos von russischen Panzern auf dem Weg in die Ukraine, Raketenangriffe auf ukrainische Städte, tanzende Soldaten oder Anleitungen zum Fahren eroberter russischer Panzer: Es ist eine schwer durchschaubare Mischung von unmittelbaren Kriegseindrücken, Propaganda und Desinformationen. Die Rede ist vom ersten "TikTok-Krieg". Laut der "New York Times" überwiege die Menge der Kriegsinhalte in der App bei weitem das, was in anderen sozialen Netzwerken zu finden sei.

Einzelne Postings mit hoher Reichweite

"TikTok ist hier besonders, weil einzelne Posting viel größere Reichweiten generieren können", sagt Marcus Bösch, der an der HAW Hamburg zu TikTok und Desinformationen forscht, auf Anfrage des ARD-faktenfinders. So wurde beipielsweise ein Video, das ukrainische Soldaten an der Front beim Tanzen zum Nirvana Song "Smells like Teen Spirit" zeigen soll, knapp 60 Millionen Mal angeschaut. Ein anderes Video vom selben Account hat 84 Millionen Aufrufe und zeigt einen Soldaten, der den bekannten "Moonwalk" zu Michael Jackson tanzt.

Ein Screenshot von TikTok zeigt einen Soldat auf einem Feld.

Das Video des "Moonwalk"-tanzenden Soldaten hat 13,6 Millionen "Gefällt mir" Angaben.

Auf TikTok ist aktuelles Videomaterial direkt vom Ort des Geschehens häufig zu erst zu sehen. Denn die chinesische App erlaubt es den Usern, Videos schnell und unkompliziert hochzuladen.

Einschränkung wichtiger Funktionen in Russland

Für russische Nutzerinnen und Nutzer wurden allerdings genau diese zentralen Funktionen eingeschränkt. Seit dem 6. März wurde sowohl das Anfertigen neuer Videos als auch das Livestreamen in Russland eingestellt - eine Reaktion auf das von Putin erlassene Mediengesetz, laut dem Gefängnisstrafen für Äußerungen drohen, die von der Kreml-Darstellung des Ukraine-Kriegs abweichen.

Diese Gesetzänderungen hätten TikTok keine andere Wahl gelassen, schreibt das Unternehmen auf Twitter. Dadurch werde allerdings auch die Organisation von innerrussischem Protest erschwert, sagt TikTok-Forscher Bösch. Ebenso verliere die Öffentlichkeit dadurch außerhalb Russlands eine veritable Informationsquelle.

Desinformationen auf TikTok

Doch nicht nur veritable Videos verbreiten sich auf TikTok. Wie auf allen Plattformen finden sich auch auf TikTok Desinformationen - vor allem aus dem Kontext gerissene Videos oder altes Bildmaterial, die fälschlicherweise den aktuellen Krieg in der Ukraine zeigen sollen, gibt es viele.

Auf TikTok verbreiten sich allerdings auch neue, plattformspezifische Formen von manipulierten Videos. So ermöglicht die Audiofunktion von TikTok, den Nutzerinnen und Nutzern die Töne oder Musik aus einem Video zu entfernen und diese dann über eigenes Material zu legen. Diese Audiofunktion wird normalerweise für Lippensynchronisations- oder Tanzvideos auf TikTok genutzt, womit die Plattform ursprünglich bekannt geworden ist.

Diese Funktion wird im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg massenhaft zur Manipulation von Videos genutzt. Ein Beispiel ist ein Video, auf dem ein Reporter vor mit Leichensäcken abgedeckten Personen steht. Es soll angeblich ukrainische Leichen zeigen, die sich bewegen, und damit einen Beweis dafür liefern, dass der Krieg in der Ukraine ein Schwindel oder "westliche Propaganda" sei. Indem der Originalton ausgetauscht und zum Beispiel durch Musik ersetzt wird, kann der Eindruck entstehen, es handele sich um einen Reporter in der Ukraine. Tatsächlich stammt das Video allerdings von einem Klimaprotest in Österreich im Februar.

Russische Propaganda

Russische Staatsmedien wir "RT", "Sputnik News" oder "RIA Novosti" nutzen TikTok während des Ukraine-Kriegs, um Desinformationen zu verbreiten, welche zum Beispiel die Ukraine als Aggressor beschreiben oder die ukrainische Regierung als Nazis diffamieren. Eine Studie des "Institute for Strategic Dialogue" (ISD) kommt zu dem Ergebnis, dass gerade die Plattform TikTok für russischen Staatsmedien enorm wichtig ist.

ISD-Studienautor Ciarán O'Connor zeigt in einer Analyse, dass ausgewählte TikTok Videos im Vergleich zu ähnlichen YouTube-Videos schneller eine höhere Reichweite erzielen können. So haben 83 TikTok-Videos der russischen Nachrichtenagengut RIA Novosti eine Reichweite von 28,7 Millionen. Im gleichen Zeitraum hat RIA 462 Videos auf YouTube hochgeladen, die 26,2 Millionen Aufrufe erhielten, was bedeutet, dass RIA-Inhalte auf TikTok besser abschneiden als YouTube. Das sei insbesondere deshalb bemerkenswert, da der Fokus der Berichterstattung sich die letzten Jahre darauf stützte, "wie staatlich unterstützte russische Nachrichtenorganisationen in den letzten Jahren ein beträchtliches Publikum auf YouTube aufgebaut haben", sagt O'Connor dem ARD-faktenfinder.

Ein von Sputnik geschaffenes spanischsprachiges TikTok-Video, in dem behauptet wird, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sei aus Kiew geflohen, wurde mehr als 2,3 Millionen Mal aufgerufen. Trotz der Beweise für den anhaltenden Aufenthalt des Präsidenten in Kiew haben weder Sputnik noch Tass ihre Fehlinformation entfernt, zurückgezogen oder mit einer Korrektur versehen.

Mittlerweile hat TikTok verkündet, die Inhalte von Accounts russischer Staatsmedien außerhalb Russlands zu sperren, um die Propagandaversuche von russischer Seite damit zu unterbinden bzw. zu erschweren. Doch Recherchen von O'Connor zeigen, dass viele Accounts trotzdem weiterhin verfügbar sind. "Das Geoblocking ist immer noch ziemlich inkonsistent", sagt er gegenüber dem ARD-faktenfinder.

Influencer Teil des russischen Informationskriegs

Russische Influencerinnen und Influencer haben offenbar in einer konzertierten Aktion Videos auf TikTok gestellt, in denen sie unter dem Hashtag #давайзамир (#letsgoforpeace) das russische Narrativ der "Friedensmission" verbreiteten und mutmaßlich dafür bezahlt wurden. Wie der Think Tank "The Atlantic Council" aus Washington D.C. berichtet, ähnelten sich die Formulierungen in den Videos so stark oder waren identisch, dass von einer Kampagne ausgegangen werden muss. So hieß es beispielsweise in den Videos: "Alle geben Russland die Schuld, aber verschließen die Augen davor, dass der Donbass seit acht Jahren unter Beschuss steht". Mehrere russische TikToker berichteten davon, dass ihnen für die Veröffentlichung solcher Videos Geld angeboten worden sei.

Die Videos der Kampagne sind mittlerweile gelöscht worden. Doch hinter den Hashtags #istandwithRussia, #istandwithPutin und #RLM - "Russian Lives Maters" stehen weitere pro-russische Kampagnen, die millionenfach gesehen werden.

Selenskyi appelliert an russische TikToker

Längst nicht alle russischen TikToker stehen hinter dem Kreml. So spricht beispielsweise der russische Influencer @glebasee in einem mehr als Millionen Mal gesehen Video klar aus, dass er keinen Krieg möchte. Viele andere äußern sich ähnlich - obwohl ihnen dafür im schlimmsten Fall sogar eine Gefängnisstrafe drohen kann.

An diese russischen TikToker hat sich sogar der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi in einer Rede gewandt und appellierte, sie könnten helfen, den Krieg zu beenden. Das zeigt einmal mehr, wie relevant die Plattform mittlerweille ist.

TikTok hat laut TikTok-Forscher Bösch in Russland zwischen 20 und 40 Millionen Nutzerinnen und Nutzer. Wie weitreichend die Einschränkung russischer Inhalte für die Plattform und deren Inhalte sein wird, ist noch unklar. "Die Zeit wird zeigen, ob die Entscheidung von TikTok, Inhalte aus Russland auszusetzen, dazu führt, dass auch staatlich unterstützte Medien die Möglichkeit einschränken, die Plattform zu nutzen", sagt O'Connor. Man werde sehen, ob die positiven oder negativen Auswirkungen überwiegen.