Ein Toter wird in Istanbul zu einem neu eingerichteten Friedhof für Opfer von Covid-19 gebracht.

Rasanter Corona-Anstieg Wird die Türkei der nächste Krisenherd?

Stand: 30.03.2020 19:47 Uhr

Offiziell gibt es in der Türkei nur wenige Corona-Infizierte. Dennoch hat die Regierung drastische Einschränkungen erlassen. Das Misstrauen der Menschen wächst - auch wegen widersprüchlicher Totenzahlen.

Die Liste des offiziellen Sterberegisters von Istanbul geisterte einige Stunden durch die sozialen Medien, bevor der Zugang gesperrt wurde. Darauf zu sehen waren die Sterbefälle des Vortages samt Namen der Verstobenen, Geburtsdatum und Todesursache - insgesamt 255 Personen. Als Todesursache war zwanzigmal Covid-19 vermerkt. Der türkische Gesundheitsminister geriet daraufhin in Erklärungsnot. Er hatte für denselben Tag, den 28. März, nur 16 Todesfälle genannt - türkeiweit.

Die erste Erklärung des Ministers lautete, dass wohl noch vier Leute gestorben seien, nachdem er die Zahlen am Abend veröffentlicht habe. Es brauchte anderthalb Tage, bis die Istanbuler Friedhofsverwaltung von einem Fehler ihrerseits sprach. Der Minister habe Recht. Trotzdem bleibt Misstrauen, etwa beim stellvertretenden Vorsitzenden der türkischen Ärztekammer, Ali Cerkezoglu:

Wir müssen den Zahlen glauben. Aber akzeptieren müssen wir das nicht. Denn falls die Zuständigen in einem Land nicht genügend Tests durchführen, muss man darüber diskutieren, ob das wirklich die tatsächlichen Zahlen dieses Landes sind.

Extrem wenige Tests

Cerkezoglu spricht einen wunden Punkt an. Die relativ niedrigen Zahlen von Infizierten dürften zum Teil auf die wenigen Tests zurückzuführen sein. Vom Ausbruch der Corona-Epidemie in der Türkei bis zum vergangenen Wochenende wurden weniger als 50.000 Menschen auf Covid-19 getestet - etwa so viele wie in Deutschland an einem Tag. Manche Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer in der Türkei um ein Fünfzigfaches höher liegt. Nach offiziellen Angaben sind mehr als 10.000 Menschen infiziert und die Zahl steigt so rasant an, wie in kaum einem anderen Land. Die Zahl der Todesopfer wird mit etwa 170 beziffert.

Aber selbst auf die offiziell niedrigen Zahlen sei die Regierung nicht ausreichend vorbereitet gewesen, sagt Ömer Faruk Gergerlioglu, Arzt und Parlamentsabgeordneter der oppositionellen HDP: "Die Ministerien haben regelrecht so getan, als würde das Virus die Türkei nicht befallen. Aber die Türkei ist ein Land, das intensiven Waren- und Reiseverkehr mit China betreibt. Und als das Virus Iran erreichte, war klar, dass es auch in die Türkei kommen wird."

Covid-19-Türkei: Gesundheitsbeamte in Schutzanzügen heben Gräber auf einem neu angelegten Friedhof in Istanbul aus, den die Behörden für die Beerdigung der an Covid-19 Verstorbenen vorgesehen haben.

Gesundheitsbeamte in Schutzanzügen heben Gräber auf einem neu angelegten Friedhof in Istanbul aus, den die Behörden für die Beerdigung der an Covid-19 Verstorbenen vorgesehen haben.

Forderung nach mehr Transparenz

Inzwischen wurden Schulen, Universitäten und die meisten Geschäfte geschlossen. Mit der Botschaft "evde kal" - "Bleib zu Hause" - werden die Menschen aufgefordert, ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Alle Auslandsflüge wurden gestrichen. Inlandsreisen sind nur mit Genehmigung möglich. Die Behörden haben rund 40 Gemeinden unter Quarantäne gestellt. Das ist aber auch der einzige Hinweis darauf, welche Regionen besonders betroffen sind. Ali Cerkezoglu von der Ärztekammer reicht das nicht:

Wir wollen, dass die Öffentlichkeit transparent informiert wird. Nicht nur mit Zahlen jeden Abend, wie viele gestorben sind und wie viele eingeliefert wurden. Es müssen mehr Details genannt werden, wobei die Namen der Betroffenen natürlich geheim gehalten werden müssen. Die Türkei hat ein Problem der Transparenz. Bei Corona so wie bei jedem anderen Thema auch.

Infektionsgefahr in Gefängnissen

Widersprüchliches zu Corona auch im Strafvollzug: Der Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioglu warnt vor einer besondere Infektionsgefahr in den überfüllten Gefängnissen. Justizminister Abdulhamit Gül dagegen beruhigt: "Sollte es zu gesundheitlichen Beschwerden kommen, werden Häftlinge unverzüglich in Krankenhäuser eingeliefert. Sie werden erst wieder nach ihrer Genesung in die Haftanstalten aufgenommen. Anschließend werden sie 14 Tage isoliert, bis sie wieder in ihre Zellen zurückkommen."

Bestimmte Häftlinge sollen freikommen

Trotzdem plant die Regierung eine Änderung des Strafvollzugsgesetzes. Dadurch soll etwa ein Drittel der 300.000 Gefangenen freikommen. Frauenverbände befürchten, dass davon auch Sexualstraftäter profitieren könnten. Die Regierung beschwichtigt: Der Gesetzentwurf sei zwar noch in der Abstimmung. Aber Mörder, Sexualstraftäter und wegen Terrordelikten Verurteilte blieben hinter Schloss und Riegel.

Der Anwalt und Journalist Gökcer Tahincioglu befürchtet, dass die Regierung die Corona-Krise nutzt, um diejenigen freizulassen, die ihr nahestehen und unliebsame Kritiker weiterhin der Corona-Gefahr im Gefängnis aussetzt, etwa vermeintliche Terroristen:

Terror, das klingt natürlich bedrohlich. Dabei sprechen wir in der Mehrzahl von Menschen, die sich weder an bewaffneten Aktionen beteiligt haben, noch direkte Verbindungen zu Terrororganisationen haben. Wegen des Propagandaartikels im Antiterrorgesetz sitzen viele Menschen wegen ihrer Meinung hinter Gittern, also etwa Schriftsteller, Journalisten und Politiker.

Darunter sind auch Ärzte und Pflegepersonal - Leute, die in den kommenden Wochen in der Türkei dringender gebraucht werden dürften denn je.