Der Kreml in Moskau
analyse

Nach Terroranschlag in Russland Geht Putins Pakt mit der Bevölkerung noch auf?

Stand: 25.03.2024 19:11 Uhr

Gerade hat sich Präsident Putin sechs weitere Jahre an der Spitze Russlands gesichert. Doch der Terrorakt am Freitag stellt infrage, ob der Deal zwischen ihm und der Bevölkerung - Sicherheit gegen Zustimmung - noch aufgeht.

Wladimir Putin wirkte durchaus erleichtert bei seiner Ansprache nach Schließung der Wahllokale am 17. März. Die Zentrale Wahlkommission sprach ihm 88 Prozent der Stimmen bei einer Rekordbeteiligung von 74 Prozent zu. Experten hatten mit etwa 80 Prozent gerechnet - besser als bei der Präsidentschaftswahl 2018, aber nicht so, dass es an die bleiernen Sowjetjahre unter Leonid Breschnew erinnert.

Die Verantwortlichen in den Regionen hatten also geliefert, das Soll gar übererfüllt. Eine weitere Ergebenheitsgeste im Machtapparat selbst waren die TV-Bilder von Regierungsmitgliedern bis hin zum Oberhaupt der Orthodoxen Kirche, wie sie ihre Stimmzettel in die Urnen warfen.

Bisher lassen sich von außen keine Risse im Machtapparat ausmachen: Er hielt während des Aufstands von Wagner-Chef Sergej Prigoschin im Sommer 2023 stand. Die Wirtschaftselite hält Putin den Rücken frei, indem sie die Staatsfinanzen und die Wirtschaft stabil hält und enorme Mittel für die Kriegswirtschaft bereitstellt.

Versagen der Geheimdienste

Doch der Terrorakt in der Konzerthalle am Rande Moskaus am Abend des 22. März stellt einen Deal infrage, den Putin einst mit der Bevölkerung eingegangen war: Er kümmert sich um das Wohlergehen und die Sicherheit des Landes. Dafür hält sich die Bevölkerung aus der Politik heraus. Mit Terrorismusbekämpfung rechtfertigte Putin den Ausbau des Polizeistaates und die Vorherrschaft der Silowiki, der "starken Männer" der Geheimdienste, bewaffneten Organe und Ermittlungsbehörden.

Doch nun ist der islamistische Terror in das Zentrum des Landes zurückgekehrt, was erneut die Frage nach einem Versagen der als allmächtig wahrgenommenen Sicherheitsorgane aufwirft. Das betraf bereits Prigoschins Aufstand, der trotz Ankündigung weit in Richtung Moskau vordringen konnte, bevor seine Kämpfer vom Militär gestoppt wurden. Zudem wirkt der Krieg gegen die Ukraine immer stärker auf den Alltag der Bevölkerung, ob durch ukrainische Drohnenangriffe auf die Infrastruktur im Inneren des Landes oder mit Bildern aus der russischen Stadt Belgorod, die zunehmend einem Kriegsschauplatz gleicht.

Ohne Aufarbeitung blieben die massiven Fehleinschätzungen der Geheimdienste, beziehungsweise dessen, was deren Führung an Putin weitergab und ihn zur "Spezialoperation" in der Ukraine bewog. Statt des schnellen Durchmarschs und Kapitulation der Ukraine steht Russland nun in einem Abnutzungskrieg, der letztlich zum Raubbau an der Bevölkerung und den Ressourcen des Landes führt.

Demografische Krise

Während Putin Entbehrungen als patriotische Pflicht einfordert, ist zu erwarten, dass er seine Wahlkampfversprechen über Rentenerhöhungen und andere Sozialmaßnahmen wie schon in den Jahren zuvor nicht im angekündigten Maße einhalten wird.

Zwar profitieren die Soldaten und ihre Angehörigen von überdurchschnittlicher Besoldung und hohen Prämien im Todes- und Versehrtenfall. Auch wächst die Wirtschaft nominal durch die massiven Investitionen in den militärischen Komplex und dessen Zulieferindustrie. Doch wirkt sich die hohe Zahl an Gefallenen und Verwundeten auf den ohnehin schon erheblichen Bevölkerungsrückgang aus. Hinzu kommt die Verschärfung des Fachkräftemangels durch die Abwanderung Hunderttausender.

Und es gibt weniger Investitionen in andere Industrien und die Infrastruktur in der Weite des Landes, zumal Staaten wie Indien und China die Lage Russlands ausnutzen, das seine Ölpreise anpassen musste. Auch wenn die Einfuhr wichtiger Technologie-Komponenten über Drittstaaten gelingt, kostet sie Zeit und Geld.

Gesten des Protests

Bislang gibt es keine Anzeichen, dass Russland an den Rand seiner Kapazitäten käme und eine aufständische Stimmung entstünde. Meinungsforscher schätzen, dass die Hälfte der Bevölkerung versucht, unauffällig ihr Leben zu führen, während 25 Prozent offen für den Krieg und ein gleich großer Anteil dagegen ist.

Doch überrascht es Beobachter immer wieder, wie viele Menschen den Mut zu Gesten des Protests aufbringen - auch nach dem Tod des Oppositionellen Alexei Nawalny, der Umfragen zufolge nur einem kleinen Teil der Bevölkerung überhaupt bekannt gewesen sein sollte.

Auch die Initiative "Weg nach Hause" der Angehörigen von Mobilisierten zeigt, dass der Krieg zu weit in das Leben einer Vielzahl von Menschen eingedrungen ist, als dass sie die daraus resultierenden Härten noch hinnehmen könnten.

Wahlforscher kamen dann auch zu dem Schluss, dass das Ergebnis am 17. März für Putin keineswegs so überzeugend wie dargestellt war. Durch eine Analyse der von der Zentralen Wahlkommission angegebenen Ergebnisse aus dem ganzen Land kamen sie einem Bericht des Oppositionsmediums "Meduza" zufolge zu dem Ergebnis, dass mindestens 22 Millionen Stimmen gefälscht waren, es sich mithin um die am stärksten manipulierte Wahl in der modernen Geschichte Russlands gehandelt habe.

Machtapparat im Mittelpunkt

Während die Bevölkerung diese so offensichtliche Wahlfälschung hinzunehmen scheint, erwartet der Geheimdienstexperte Andrei Soldatow, dass sie auch mit den unglaubwürdigen Darstellungen Putins zum Terroranschlag vom 22. März leben werden. Allerdings hätten Angst und Misstrauen bereits zum Entstehen aller möglichen Verschwörungstheorien geführt, die wiederum alle Verlautbarungen des Kreml infrage stellten, so Soldatow in einem Meinungsbeitrag für den "Guardian".

Ein Grund ist die fehlende Aufarbeitung früherer Terroranschläge. Außerdem ist die Antiterrorgesetzgebung seit 2006 auf den Erhalt des Machtapparats und nicht auf den Schutz der Bevölkerung ausgerichtet. Entsprechend handelten die verantwortlichen Dienste und Behörden immer so, dass gegen Angriffe auf das Gewaltmonopol des Staates harsch vorgegangen wurde, ohne dass Rücksicht auf die Opfer der Terrorakte genommen wurde. Das zeigen Beispiele wie die Geiselnahmen im Moskauer Dubrowka-Theater 2002 und 2004 in einer Schule in Beslan.

Beobachter warnen mit Verweis auf andere diktatorische Regime in der Geschichte davor, die Beharrungskräfte von Putins Regime zu unterschätzen. Doch stellt sich für die Zukunft die Frage, wie viele unerwartete Ereignisse sein zunehmend starrer Machtapparat noch verkraften wird, zumal wenn gewaltbereite und extremistische Organisationen wie der "Islamische Staat" ausnutzen wollen, dass er die Kräfte auf den Krieg gegen die Ukraine konzentriert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 25. März 2024 um 19:31 Uhr.