Flughafen Makhachkala / Quelle: Russische Staatsagentur TASS
analyse

Antisemitische Übergriffe Ferne Folgen des Krieges gegen die Ukraine

Stand: 30.10.2023 19:09 Uhr

Die judenfeindlichen Unruhen im Nordkaukasus haben Entsetzen ausgelöst. Die russische Führung behauptet, der Westen und die Ukraine stünden dahinter. Doch die Ursachen sind hausgemacht.

Am Morgen nach den Unruhen liegt der Flughafen der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala verlassen da. Aufnahmen zeigen den Gouverneur der russischen Teilrepublik, Sergej Melikow, bei einem Rundgang über das Gelände. Von Sicherheitspersonal lässt er sich zeigen, wo die Menschenmenge in das Flughafengebäude und auf das Flugfeld eingedrungen war, um Jagd auf jüdische Passagiere eines Flugzeuges zu machen, die am Sonntagabend aus Tel Aviv gelandet war.

Melikow versuchte noch am Sonntagabend, sich von den Unruhen zu distanzieren. Die Ereignisse seien "ungeheuerlich". Die Strafverfolgungsbehörden würden sich angemessen damit befassen.

Im Nordkaukasus hatte sich die Stimmung bereits in den vergangenen Tagen aufgeheizt, die Ereignisse am Flughafen waren dabei nur der Höhepunkt. Am Samstag hatte in der Stadt Chassawjurt eine Menschenmenge ein Hotel umringt und gefordert, die Pässe der Gäste zu kontrollieren. In Naltschik wurde neben einem im Bau befindlichen Kulturzentrum ein Feuer entzündet.

Jüdische Gemeinden in Angst

Das russische Exilmedium "Medusa" zitierte am Sonntag ein Mitglied des Oberrabinats Russlands in Dagestan, Owadja Isakow, mit der Befürchtung, dass die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Dagestan evakuiert werden müssen. Sie hätten große Angst, die Polizei helfe nicht. Er wisse aber nicht, was er raten solle. Auch anderswo in Russland gebe es Angriffe.

Entsprechend entsetzt äußerten sich Vertreter internationaler jüdischer Organisationen. Es sei zu hoffen, dass Präsident Wladimir Putin "die örtlichen Behörden unmissverständlich anweist, keine Pogrome gegen Juden zuzulassen", sagte der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner, Pinchas Goldschmidt, der Katholischen Nachrichten-Agentur. Goldschmidt war Oberrabbiner Moskaus. Er lebt seit 2022 im Exil, weil er den Krieg Russlands gegen die Ukraine ablehnt.

Gewalttätige antisemitische Angriffe gegen Juden in russischer Teilrepublik Dagestan

Olaf Bock, ARD Moskau, tagesthemen, 30.10.2023 22:15 Uhr

Die russische Führung behauptete, die Unruhen gingen auf ausländische Provokateure zurück. Angesichts der Fernsehbilder vom "Horror" im Gazastreifen sei es "sehr leicht, die Lage zu missbrauchen", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Er sprach von Versuchen des Westens, die Ereignisse in Nahost auszunutzen, um die Gesellschaft Russlands zu spalten. Eine Außenamtssprecherin in Moskau behauptete ebenso wie Dagestans Republikoberhaupt Melikow, die Ukraine spiele eine Schlüsselrolle.

Allerdings blieben sie Belege schuldig - zum Beispiel, wer hinter Telegram-Kanälen wie "Morgen Dagestans" steht, die in den vergangenen Tagen über die Evakuierung israelischer Staatsbürger in südrussische Städte wie Sotschi und Mineralnyje Wody, aber auch nach Machatschkala berichtet und dabei Hass geschürt hatten. Die Ankunftsdaten der Passagiermaschine aus Tel Aviv waren dort kommuniziert worden.

Putins Handlungsspielraum eingeschränkt

Auch waren es prominente Persönlichkeiten aus dem Nordkaukasus, die Ängste geschürt und die Stimmung gegen Israel angeheizt hatten. So schrieb der Kampfsport-Champion Chabib Nurmagomedow am 18. Oktober nach der Explosion an einem Krankenhaus von einem Völkermord Israels in Gaza. Sein Instagram-Account hat 35,8 Millionen Follower.

Präsident Putin selbst macht im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine direkt oder vermittelt Stimmung gegen Juden. Dazu zählte seine Bemerkung Anfang September, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sei vom Westen als "ethnischer Jude" installiert worden, um vom Nazismus dort abzulenken.

Außenminister Sergej Lawrow hatte im Mai 2022 Israel mit einem Nazi-Vergleich empört, indem er vom "jüdischen Blut" Adolf Hitlers schwadronierte. Die Regierung in Jerusalem bestellte damals den russischen Botschafter ein - wie auch in diesen Tagen, nachdem Putin Vertreter der Hamas nach Moskau anreisen ließ. Nicht nur pflegt die russische Führung seit längerem Verbindungen zu der islamistischen Terrororganisation. Auch dessen Verbündeter und Finanzier Iran wurde infolge westlicher Sanktionen für Russland als Partner immer wichtiger.

Die Beispiele zeigen, wie sehr der Krieg gegen die Ukraine inzwischen die Politik Putins beherrscht und ihm damit Flexibilität nimmt, der er bisher auch in Nahost genutzt hat. Mit Israels Präsident Benjamin Netanyahu pflegte Putin bisher gute Beziehungen.

Fruchtbarer Boden für Antisemitismus

Bemerkungen wie jene Putins und Lawrows gegen Israel und Juden entsprechen in Russland weit verbreiteten antisemitischen Mustern. Zivilgesellschaftliche Organisationen zur Aufarbeitung und Aufklärung über die Geschichte wurden immer weiter in ihrer Arbeit eingeschränkt. An den Bildungseinrichtungen des Landes wird immer stärker Geschichtsklitterung betrieben und Ultra-Nationalismus verbreitet.

In Regionen wie dem Nordkaukasus kommt eine prekäre soziale Lage und massiver Frust hinzu. Schon vor einem Jahr war es in Dagestan zu einem Aufstand gegen die Zwangsrekrutierung von Männern für den Krieg gegen die Ukraine gekommen. Die Unruhen waren mit Gewalt niedergeschlagen worden.

Putin empfing religiöse Führer Russlands im Kreml

Putin empfing wenige Tage vor dem Gewaltausbruch im Nordkaukasus religiöse Führer des Landees

Spannungen, die Putin nicht gebrauchen kann

Auch jetzt zeichnet sich ab, dass der plötzliche Gewaltausbruch mit aller Macht wieder eingedämmt werden soll. Denn solche Spannungen in Russland kann Putin nicht gebrauchen. Noch vor wenigen Tagen hatte Putin religiöse Führer des Landes in den Kreml geladen und ihnen gesagt, dass "interethnische und interreligiöse Harmonie die Grundlage der russischen Staatlichkeit" sei. Es ist eine Politik, die Putin von Beginn an mit Blick auf die Vielfalt an Ethnien und Religionen in Russland verfolgte.

Auch rechtsextreme Bewegungen hatte Putin nach schweren Straftaten gegen Migranten letztlich niederschlagen lassen, wobei es auch weiter zu massiver Gewalt gegen Gastarbeiter und ethnische Minderheiten kommt.

Spielraum dann, wenn er Putin nützt

Die Verhaftung des ultranationalistischen Militärbloggers Igor Girkin/Strelkow sowie der Tod von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin zeigen ebenfalls, dass Putin solche Akteure lange gewähren lässt, sofern sie als Ventil für Stimmungen in der Bevölkerung und seinen Machtspielen dienlich sind. Gefährden sie aber die Stabilität seiner Macht, entledigt er sich ihrer.

Doch auch innenpolitisch engt der Krieg gegen die Ukraine den Handlungsspielraum Putins zunehmend ein und gefährdet die Stabilität des Landes. Das zeigt der antisemitisch motivierte Gewaltausbruch im Nordkaukasus als - hingenommene beziehungsweise ungewollte - Folge dieses Krieges.

Fraglich ist, wie wirksam Gesten Putins als Gegenmaßnahmen noch sind - wie jener Besuch Ende Juni in Dagestan nach der gescheiterten Meuterei Prigoschins. Unerwartet hatte sich er dort nach langer Zeit wieder in einer scheinbar spontan versammelten Menschenmenge gezeigt und ein Mädchen geherzt.

Der russische Präsident Wladimir Putin trifft sich mit Menschen während einer Reise nach Dagestan.