Zerstörte Gebäude im Gazastreifen
interview

Israels Dilemma "Je länger der Krieg dauert, umso besser für Hamas"

Stand: 17.11.2023 16:40 Uhr

Die Hamas in Nord-Gaza ist geschwächt und doch dürfte sie von einem langen Krieg profitieren, sagt Nahostexperte Peter Lintl. Da der Großteil der Bewaffneten im Süden sei, würden sich die Kämpfe wohl auch dorthin ausweiten.

tagesschau.de: Es wird befürchtet, dass sich die Kämpfe zwischen israelischen Truppen und der Hamas auch in den Süden des Gazastreifens ausweiten. Wie kommt es dazu?

Peter Lintl: Sicherlich sind einige Hamas-Terroristen mit den Zivilisten in den Süden geflohen. Das ist vollkommen klar. Aber vor allem ist ja nicht die ganze bewaffnete Hamas im Norden des Gazastreifens. Bisher sind dort nur zwei der fünf Brigaden der Hamas. Diese sind fast zerschlagen.

Aber der Rest ist im Süden. Das weiß auch Israel, und von daher ist vollkommen klar: Wenn Israel das vorgegebene Ziel weiterverfolgen will, die Hamas zu zerschlagen, wird sich dieser Kampf auch in den Süden verlagern müssen, auch wenn nach allem, was man weiß, die Hauptinfrastruktur der Hamas in Gaza-Stadt war.

Die Hamas ist ganz offensichtlich geschwächt, ihre Operationalität ist deutlich eingeschränkt. Man geht davon aus, dass zwischen 2.000 und 3.000 Hamas-Kämpfer gefallen sind. Die israelische Armee hat dagegen überraschend wenige Tote zu verzeichnen, ich glaube, es sind bislang etwa 50 - auf jeden Fall sehr, sehr wenige im Vergleich zur Zahl der getöteten Hamas-Terroristen.

Peter Lintl
Zur Person

Peter Lintl ist Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und forscht dort in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten zu Israel und dem Nahostkonflikt.

"Internationaler Druck auf Israel wird steigen"

tagesschau.de: Hat die Hamas mit einer Reaktion Israels dieser Härte gerechnet? Hat sie sich verkalkuliert?

Lintl: Ich bin mir nicht sicher, ob sich die Hamas verkalkuliert hat. Die Funktionäre der Hamas erklären derzeit alle, dass das palästinensische Volk bereit sei, diesen Blutzoll zu zahlen. Sie insinuieren zumindest, dass das alles ein längerer Plan war. Ob das nur Kriegsrhetorik ist, ist natürlich unklar.

Aber meines Erachtens muss der Hamas klar gewesen sein, dass die gezielte Brutalität ihres Angriffs mit den Massakern und den Traumata, die das verursacht hat, eine solche Reaktion hervorrufen würde. Mir war am 7. Oktober klar, dass Israel keine andere Möglichkeit haben wird, als das Ziel auszurufen, die Hamas zu zerschlagen. Und ich denke, der Hamas war das auch klar.

Einige Hoffnungen der Hamas haben sich natürlich nicht erfüllt. Sie wollte ja, dass es einen Multifrontenkrieg gibt. Sie hat versucht, im Westjordanland die Situation noch stärker aufzuwiegeln. Und sie hat natürlich gehofft, dass die Hisbollah einsteigen wird. Das hat sich nicht erfüllt.

Aber der Satz "Je länger dieser Krieg dauert, umso besser für Hamas" ist nach wie vor richtig, weil jetzt der internationale Druck auf Israel steigen wird, je mehr tote palästinensische Zivilistinnen und Zivilisten es geben wird. Und das hat die Hamas durchaus einkalkuliert.

Karte Gazastreifen mit den von der israelischen Armee kontrollierten Gebieten

Graue Flächen: Bebaute Flächen im Gazastreifen. Schraffur: Israelische Armee

"Hamas ist bereit, sehr viele palästinensische Zivilisten zu opfern"

tagesschau.de: Muss denn Israel bald dem internationalen Druck nachgeben und die Kämpfe pausieren oder seine Taktik ändern?

Lintl: Die Hamas hat das Ziel, sich als die große Führungsmacht im Kampf gegen Israel zu präsentieren; sie will zeigen, dass Israel militärisch nicht unangreifbar ist; und sie will, dass die "palästinensische Sache" wieder auf den Tisch kommt. Und dafür ist sie bereit, sehr, sehr viele palästinensische Zivilistinnen und Zivilisten zu opfern.

Die israelische Armee weiß natürlich, dass es eine Frage der Zeit ist, bis dadurch der Druck auf Israel zu groß wird. Die israelische Armee spricht vom Fenster der Legitimität. Wie lange gibt die Weltgemeinschaft, insbesondere der Westen und die USA, Israel Zeit, hier zu agieren? Alle Seiten wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist.

Das "Fenster der Legitimität"

tagesschau.de: Und wann schließt sich dieses Fenster der Legitimität endgültig?

Lintl: Diese Begrifflichkeit, die die Armee verwendet, kommt aus vorherigen Kriegsrunden. Doch dieses Mal sind die Bedingungen anders, weil die Brutalität des Hamas-Angriffs einfach eine andere ist. Deswegen wird Israel auch von den USA noch mehr Zeit bekommen. Deswegen werden sich die Israelis vielleicht auch stärker dem internationalen Druck widersetzen.

Trotzdem ist unklar, von welchem Zeitraum wir jetzt noch sprechen. Der Außenminister Israels sagt, Israel hat noch zwei Wochen Zeit zu operieren. Der Verteidigungsminister spricht von Monaten, die sie noch brauchen. Das sind eklatante Unterschiede.

Aber was wir in jedem Fall sehen werden, sind längere Feuerpausen. Kein Waffenstillstand, aber längere Feuerpausen, weil sonst die humanitäre Situation in Gaza außer Kontrolle geraten wird. Joe Biden drängt ja bereits darauf, dass diese Feuerpausen kommen.

"Wichtig, die Köpfe der Hamas auszuschalten"

tagesschau.de: Wird Israel die Hamas im Gazastreifen überhaupt militärisch besiegen können?

Lintl: Israel muss seine militärischen Ziele genauer definieren. 20.000 bis 40.000 Menschen sollen militärisch zur Hamas gehören. Es ist unmöglich, diese alle zu identifizieren - es müssten ja irgendwie alle Zivilisten einzeln überprüft werden. Darin liegt eine Gefahr.

Und wie viele und welche der Hamas-Strukturen sollen zerschlagen werden? Sicherlich ist es für Israel wichtig, die Köpfe der Hamas auszuschalten. Ohne das Ausschalten der Führungsfiguren wird es sehr schwierig, diesen Krieg als Gewinn verkaufen zu können. Wo die sind, ist derzeit unklar, weiß niemand. Aber es kann gelingen.

"Dann schwindet die Legitimität wirklich"

tagesschau.de: Die israelische Armee durchsucht weiter das Al-Schifa-Krankenhaus im Gazastreifen. Was bedeutet es für Israel, wenn die israelische Armee dort keine Kommandozentrale der Hamas findet?

Lintl: Noch weiß man nicht, was noch gefunden wird. Ich glaube, da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Aber wenn darunter nicht die Kommandozentrale liegt, von der ja sowohl der israelische wie der US-Geheimdienst sprechen, wird der Druck auf Israel steigen.

Dann wird sich jenes Fenster der Legitimität sehr viel schneller schließen. Dann schwindet die Legitimität des militärischen Vorgehens Israels wirklich, schließlich ist es sehr symbolträchtig, gegen ein Krankenhaus vorzugehen. Aber: Es kann durchaus sein, dass diese Hamas-Zentrale hier noch gefunden wird.

"Situation im Westjordanland kann schnell eskalieren"

tagesschau.de: Sie sprachen das Ziel der Hamas eines Multifrontenkriegs an. Muss man weiterhin mit einer Ausweitung des Krieges rechnen?

Lintl: Im Norden sieht es so aus, als ob die Hisbollah erst mal auf dem derzeitigen Niveau weiterkämpfen wird. Sie involviert Israel in Kampfhandlungen, will aber nicht wirklich Kriegspartei werden. Das kann sich aber durch Zufall immer ändern. In dem Moment, wo eine Rakete abkommt und auf ein israelisches Krankenhaus oder auf ein Wohnhaus fällt, muss Israel reagieren. Und damit hat sich die Situation schnell geändert und die Hisbollah wird Kriegspartei werden.

Sensibler und unübersichtlicher ist die Situation im Westjordanland. Dort gibt es eine komplexe Gemengelage, in der verschiedene Akteure eine Rolle spielen: die Unterstützerinnen und Unterstützer der Hamas und des Islamischen Dschihad, die von der israelischen Armee zunehmend festgenommen werden; die israelische Armee; kleine Gruppen von radikalen Siedlern, die die Situation weiter aufheizen, die provozieren. Und die Stimmungslage in der palästinensischen Bevölkerung ist zunehmend aufgeladen.

Viel hängt davon ab, wie gut die Palästinensische Autonomiebehörde, die ja in einer Zwickmühle steckt, die Lage noch unter Kontrolle halten kann, sicherheitstechnisch und politisch. Das kann schnell kippen. Das hängt einerseits mit der Situation im Gazastreifen zusammen, aber auch von anderen Faktoren. Wenn es einem einzelnen Akteur gelingt, einen größeren Anschlag durchzuführen, dann kann die Situation auch sehr schnell eskalieren im Westjordanland.

Der schlimmste Fall wäre, wenn Teile des Sicherheitsapparates der Autonomiebehörde die Seiten wechseln und gegen Israel kämpfen. Das ist bisher nicht der Fall und das ist positiv. Man muss immer wieder betonen, wie wichtig die Autonomiebehörde derzeit ist, um die Situation zu beruhigen. Auch wenn sie für viele die Hamas-Anschläge nicht genug kritisiert hat, spielt sie eine sehr, sehr wichtige Rolle, um die Situation im Westjordanland stabil zu halten. Aber sie ist massiv unter Druck.

"Keine Zweistaatenlösung mit dieser israelischen Regierung"

tagesschau.de: "Politico" veröffentlichte vor kurzem einen Vorschlag der Bundesregierung, im Gazastreifen eine UN-geführte Verwaltung einzurichten. Wie bewerten Sie das?

Lintl: Es ist ein Plan mit sehr, sehr vielen Hürden. Es braucht dafür ein Mandat des Sicherheitsrates. Die Erfolgsaussichten dafür sind unklar. Aber vor allem bedarf es einer politischen Vision für die Zeit nach der Verwaltung durch die UN. Eine einfache Übergabe an die Palästinensische Autonomiebehörde ist derzeit nicht denkbar. Sie hat innerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu wenig Rückhalt. Sie braucht mehr Legitimität. Ohne Neuwahlen bekommt sie die nicht.

Vor allem braucht sie eine echte politische Vision für die Zweistaatenlösung. Und das ist mit der derzeitigen israelischen Regierung nicht zu machen. In dieser Regierung sind ja erklärte Gegner einer Zweistaatenlösung. Mit dieser Regierung wird es keinen politischen Horizont für die Palästinenser geben.

Aber: Jetzt ist sehr vielen Menschen in Israel und anderswo klar geworden, dass die bisherige Strategie des Konfliktmanagements gescheitert ist. Und ich glaube, das ist die Chance, die derzeit im Raum steht. Die israelische Regierung ist extrem unbeliebt in der Gesellschaft, insbesondere weil Premierminister Benjamin Netanyahu für den Krieg verantwortlich gemacht wird. Es war ja Netanyahus Strategie, dass man die Hamas quasi stärkt, um die Palästinensische Autonomiebehörde zu schwächen. Auch die Unterstützerinnen und Unterstützer der Siedler in der Regierung werden immer kritischer gesehen.

Das heißt, es kann gut sein, dass nach diesem Krieg Neuwahlen in Israel kommen, auch wenn Netanyahu alles tun wird, um diese zu verhindern. Aber das wäre die notwendige Bedingung, damit man einen anderen Horizont schaffen kann - vielleicht auch für den Vorschlag der deutschen Regierung.

Das Gespräch führte Christoph Schwanitz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 13. Oktober 2023 um 09:00 Uhr.