Angehörige einer Miliz zeigen das Victory-Zeichen in Bagdad (Irak)

Irak Wenn ein Land mit Waffen geflutet wird

Stand: 21.01.2023 08:44 Uhr

Nach der US-Invasion 2003 sind massenweise Waffen im Irak geblieben. Viele davon werden mittlerweile auf dem Schwarzmarkt gehandelt - und sorgen auf Bagdads Straßen knapp 20 Jahre nach dem Krieg immer wieder für Gewalt. 

Aus seinem Schlafzimmer holt Haider Hashem eine alte Kalaschnikow. Der Familienvater hat sie immer in seiner Nähe, wenn er als Taxifahrer durch Bagdad fährt oder zu Hause, in seinem kleinen, zweistöckigen Haus am Rande der irakischen Hauptstadt.

Nachts sei sie meist unter dem Bett versteckt, erzählt der 40-Jährige. Ohne die Waffe fühle er sich nicht sicher. "Wir brauchen hier Waffen einfach zur Selbstverteidigung. Wenn man keine Waffe hat, wird man ganz schnell mal ausgeraubt - für uns ist das fast schon Alltag."

Wenn eine Gesellschaft zerfällt

Wie dem Vater von zwei Söhnen geht es vielen Menschen im Irak. Ein wesentlicher Grund ist der Zerfall des Staates nach der US-Invasion im Jahr 2003, berichtet die Organisation Action on Armed Violence (AOAV) mit Sitz in London, die seit Jahren der Frage nachgeht, woher Zehntausende Waffen im Irak kamen und wie sie verschwinden konnten.

AOAV-Leiter Iain Overton, der 2003 als Kriegsberichterstatter für die BBC in Bagdad unterwegs war, verweist auf ein durch die Invasion geschaffenes Machtvakuum.

Als der langjährige Machthaber Saddam Hussein von einer durch die USA geführten Militärkoalition gestürzt wurde, habe auch das irakische Militär seine Macht verloren. Viele Soldaten und Offiziere hätten ihre Waffen mit nach Hause genommen. Und zahlreiche unbewachte Waffenlager seien geplündert worden, berichtet Overton. 

US-Soldaten und Iraker stürzen im April 2003 eine Statue des Diktators Saddam Hussein in Bagdad (Irak) vom Sockel

Der Diktator Hussein und seine Statuen waren im Frühjahr 2003 schnell gestürzt. Doch das schuf neue Probleme im Irak - bis heute.

Ein fataler Versuch der Stabilisierung

Gleichzeitig versuchten das amerikanische und das britische Militär, die Situation im Irak nach dem Einmarsch so schnell wie möglich zu stabilisieren. Zehntausende Waffen seien deshalb damals an sympathisierende Milizen und einen neuen Sicherheitsapparat verteilt worden, hat AOAV recherchiert. Unter Hochdruck sollte eine Demokratie entstehen.

In kürzester Zeit gelangten nach der US-Invasion so massenhaft Waffen im Irak in Umlauf. Bereits vier Jahre später allerdings war die Hälfte davon spurlos verschwunden. Laut einem 2007 vom US-Verteidigungsministerium veröffentlichten Bericht waren 110.000 ausgegebene Maschinengewehre und 80.000 Pistolen nicht mehr auffindbar. 

So habe nach der US-Invasion auch die Kriminalität in dem Land deutlich zugenommen. Viele Banden hätten sich den Zerfall der Gesellschaft damals zu Nutze gemacht.

Angehörige einer Miliz laufen bewaffnet über eine Straße in Bagdad (Irak)

Viele Waffen und keine Stabilität: Die Konflikte im Irak sind auch deshalb so schwer zu lösen, weil Zehntausende Waffen im Land in der Hand von Privatpersonen und von Milizen sind.

Wenig Wissen über eine komplexe Lage

Experten wie Overton geben auch der US-Koalition eine Mitschuld daran, dass im Irak Gewalt bis heute weit verbreitet ist: Wenn man in einer höchst instabilen Situation, "von deren Komplexität man als Besatzungsmacht kaum eine Ahnung hat", meine, "dass man einfach nur den Guten eine Waffe in die Hand drücken müsse", ende das "zwangsläufig im absoluten Chaos", sagt er. 

Aber nicht nur die USA brachten Waffen in das Land. Auch Regionalmächte wie der Iran oder Saudi-Arabien rüsteten irakische Milizen aus.

Zusammen mit dem, was aus den Lagern des Saddam-Regimes geklaut wurde, dürften damals Hunderttausende Waffen in Umlauf gekommen sein, meint Overton. Und die meisten dieser Waffen seien wohl auch heute noch irgendwo in dem Land.

Sicherheitskräfte sperren in Bagdad (Irak) eine Straße zur sogenannten grünen Zone ab.

Weil die Lage in Bagdad so unsicher ist, müssen zentrale Bereiche wie die sogenannte Grüne Zone massiv abgeriegelt werden.

Klima der Angst in Bagdad

Der Irak-Krieg ist seit Langem vorbei - die Waffen aber sind noch immer da. Und das hat verheerende Auswirkungen. Im Kampf um Einfluss im Irak geraten schwer bewaffnete Milizen immer wieder aneinander.

Wie zum Beispiel im vergangenen Sommer, als sich Anhänger des schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr tagelang Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften und verfeindeten Milizen lieferten. Zahlreiche Menschen starben.

Eine tödliche Mischung

Hinzu kommen Korruption und eine hohe Arbeitslosigkeit, die bei vielen Menschen in Frust oder Kriminalität münden können. Und weil es in vielen irakischen Haushalten eine Waffe gibt, enden private Streits schnell tödlich.

"Es passiert häufig, dass der eine Cousin den anderen umbringt", sagt der Taxifahrer Hashem. "Am Ende findet man eine Pistole oder ein Maschinengewehr bei ihm. Diese Probleme gibt es nur wegen der vielen Waffen."

Wie häufig es tatsächlich zu solchen Situationen kommt, ist allerdings nicht bekannt. Es gibt weder öffentlich einsehbare Zahlen noch Studien zu den Folgen von Waffengewalt im Irak.

Man müsse mehr Wissen generieren, um Maßnahmen ergreifen zu können, die wirklich eine Wirkung zeigen, meinen daher Beobachter wie Overton.

Erwartungen an die neue Regierung

Ende Oktober 2022 kam im Irak eine neue Regierung an die Macht. Die Erwartungen sind hoch: Experten aber auch Bürger fordern vom neuen Premierminister Mohammed al-Sudani, konsequent Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, die Zivilgesellschaft zu stärken und die Korruption zu bekämpfen.

Menschen wie dem Familienvater und Taxifahrer Haider Hashem könnte das ein Gefühl von Vertrauen in die Staatsgewalt und von Sicherheit zurückgeben - auch ohne Waffen.

Tilo Spanhel, Tilo Spanhel, ARD Kairo, zzt. Bagdad, 20.01.2023 13:35 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 30. August 2022 um 07:00 Uhr.