Menschen in Gaza-Stadt flüchten aus dem Norden. (Archivbild vom 11. Oktober 2023)
interview

Berichterstattung aus Krisenregionen "Jedes Bild hinterlässt etwas"

Stand: 19.10.2023 07:11 Uhr

Zerstörte Häuser, weinende Menschen, Blut auf den Straßen: Diese Bilder bestimmen die Nachrichten. Neurowissenschaftlerin Urner erklärt im Interview, welchen Einfluss die Bilder auf uns haben - und wie der Umgang mit ihnen gelingen kann.

tagesschau.de: Wir sehen Menschen, die aus zusammengefallenen Häusern weglaufen, schreiende Kinder, Menschen, die in Krankenhäuser stürzen und Blutspuren auf dem Boden. Was machen diese Bilder mit uns?

Urner: Ganz wichtig ist zu verstehen, dass alles, was wir tun - worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten - einen Einfluss auf unser Gehirn und damit auf uns als Menschen hat. Es beeinflusst unsere Erinnerungen, wie wir die Welt sehen und wie wir dann infolgedessen die Welt wahrnehmen. Nichts bleibt ohne Spuren. Anders ausgedrückt: Jedes Bild hinterlässt etwas.

Natürlich gibt es gewisse Abnutzungseffekte. Menschen gewöhnen sich mehr oder weniger an schlimme Bilder. Das ist völlig wertfrei und bedeutet nicht, dass es gut oder schlecht ist. Wichtig dabei ist es, sich immer wieder bewusst zu machen, was wir konsumieren und natürlich auch, wie wir es konsumieren. Und mit wem sprechen wir vielleicht auch darüber? All das hat einen Einfluss auf unser Gehirn und damit auf uns als Menschen.

Maren Urner
Zur Person

Maren Urner ist Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln.

Das Gehirn braucht Pausen

tagesschau.de: Wie sollten wir denn als Menschen mit den Bildern dieser Zeit umgehen?

Urner: Wichtig ist es, das zu tun, was wir hier gerade tun: Sich bewusst zu machen, was da eigentlich gerade passiert. Es geht erst einmal darum, darüber nachzudenken, wie konsumiere ich, wann konsumiere ich. Die meisten von uns besitzen ein Smartphone. Wir sollten immer wieder überlegen, in welchen Zeiten wir das Smartphone vielleicht auch mal beiseite legen und sagen: "Das ist jetzt genug, ich habe genug für heute. Und ich mache jetzt ganz bewusst etwas anderes."

Ganz wichtig ist dabei zu verstehen, dass das nicht bedeutet, Nachrichten zu ignorieren, auszublenden oder irgendwie die Augen zu verschließen. Sondern zu verstehen und auch anzuerkennen, dass die Informationsverarbeitung gerade auch von Bildern nicht mit der Informationsaufnahme aufhört, sondern unser Gehirn auch diese Zeiten benötigt, in denen nichts Neues reinkommt.

Schlaf ist eine ganz wichtige Phase. Aber auch während des Wachzeitraums braucht es Zeiten, in denen nichts Neues reinkommt, damit das, was zuvor angekommen ist, überhaupt umfänglich verarbeitet werden kann.

Maren Urner, Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medienkommunikation und Wirtschaft in Köln, zum Umgang mit Bildern aus Krisenregionen

tagesschau24, 18.10.2023 19:00 Uhr

Gedächtnis funktioniert vor allem über Emotionen

tagesschau.de: Kann man sagen, dass sich diese Bilder bei uns im Gehirn festsetzen?

Urner: Ja auf jeden Fall. Je dramatischer - im Sinne von abwegiger von der Norm, von dem, was wir bisher kennen - desto besser bleibt es hängen. Unser Gehirn funktioniert vor allem über Gewohnheiten, auch bei Bildern. Je mehr sie abweichen, desto stärker werden sie abgespeichert.

In diesen Tagen wird immer wieder der Vergleich zu den Ereignissen von 9/11 gezogen. Die meisten Menschen, die alt genug sind, können sich noch immer an die Bilder erinnern. An die Bilder, die jeder und jede zum ersten Mal gesehen hat, als die Twin Towers gebrannt haben, wie Menschen dort verzweifelt waren.

Und genau das erleben wir jetzt auch wieder. Wichtig ist sich also zu merken: Je abnormaler, je extremer, desto stärker wird es abgespeichert. Warum? Weil es emotionaler ist. Und unser Gehirn und unser Gedächtnis funktionieren vor allem über Emotionen.

Ein Gehirn kann bis zum Lebensende lernen

tagesschau.de: Und wie schütze ich mich jetzt vor diesen Bildern?

Urner: Die gute Nachricht ist, dass sich unser Gehirn immer verändert. Und genau deshalb können wir auch bis ans Lebensende lernen. Und einen konstruktiven Umgang mit den Herausforderungen - inklusive der Bilder dieser Tage - erlernen.

Hier spielt das Thema Resilienz eine ganz wichtige Rolle. Und zwar nicht in dem Sinne, dass man sich daran gewöhnt. Sondern Resilienz wirklich im Sinne davon, den eigenen Umgang zu reflektieren und sich dann auch Routinen, Gewohnheiten zu schaffen, die auf der einen Seite den Konsum reduzieren und auf der anderen Seite auch dafür sorgen, dass wir immer konstruktiv auf die Dinge schauen.

Wir können uns immer fragen: Was bringt mir das jetzt eigentlich gerade? Bin ich wirklich besser informiert? Oder wird hier nur eine gewisse Neugier, vielleicht auch eine gewisse Sensationslust bedient, die dann wiederum zu negativen Folgen führen kann?

Das heißt, sich wirklich ganz bewusst Ziele zu setzen, Aufgaben zu setzen, wie bei anderen Gewohnheitsänderungen auch. Das ist eine wichtige Leitfrage. Hinzu kommt: Wir sind nicht nur diese Wesen, die Bilder stark wahrnehmen, sondern auch soziale Wesen. Das bedeutet, gemeinsam mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Dies dann auch fortzusetzen, nicht nur im Privaten, sondern auch im gesellschaftspolitischen Raum.

In Krisen kann der Mensch besonders lernfähig sein

tagesschau.de: Kann man Resilienz lernen?

Urner: Ja, tatsächlich zeigen das erste Studien. Es ist noch ein junger Forschungsbereich. Vieles wird dabei auch in einen Topf geworfen. Es gilt also eine gewisse Vorsicht walten zu lassen, weil aktuell vieles als Resilienz bezeichnet wird, weil das Thema populär ist. Fest steht, wir können resilienter werden. Dabei geht es auch darum, einen konstruktiven Umgang mit der aktuellen Lage und den vielen Krisen zu finden. Sie sind erst einmal nichts anderes als Wendepunkte, also Momente, in denen sich Dinge verändern.

In genau diesen Momenten sind wir tatsächlich besonders lernfähig, um dann im nächsten Fall - ähnlich wie bei einem Trainingsreiz - besser darauf vorbereitet zu sein. Dafür ist es zentral, darüber zu sprechen und nicht alles runterzuschlucken und auszuhalten.

Kinder sind besonders gefährdet

tagesschau.de: Lassen Sie uns einen Blick auf Kinder und Jugendliche werfen. Bei ihnen fließen alle möglichen Nachrichten gerade direkt auf die Bildschirme ihrer Handys. Sind sie jetzt besonders gefährdet?

Urner: Ja, denn das junge Gehirn entwickelt sich noch am meisten. Gerade in den jungen Jahren ist die sogenannte Plastizität, also die Formbarkeit unseres Gehirns, besonders hoch. Die Veränderung ist also am stärksten. Das heißt, jeder Eindruck, in diesem Fall auch die Bilder, ist sehr viel stärker als in einem älteren Gehirn, wo die Formbarkeit weniger stark ausgeprägt ist und wir ein bisschen statischer werden.

Das heißt, gerade in diesen jungen, sich entwickelnden und natürlich auch ganz neugierigen Hirnen, also Kindern, ist die Gefahr und Einflussnahme sehr viel größer als in älteren Menschen. Die Verantwortung liegt bei den Erwachsenen, Erziehungsberechtigten und allen Menschen, die mit Kindern im Austausch sind.

Kinder mit Bildern von Krisen nicht allein lassen

tagesschau.de: Also, das bedeutet, viel mit den Kindern reden und eventuell auch einfach das Handy ausschalten?

Urner: Ja, und zwar von Anfang an. Wirklich zu fragen: Was macht es mit dir? Wie fühlst du dich gerade? Es geht darum, bewusst die Frage der Informations- oder der Medienhygiene zu thematisieren und zu schauen, was ist für entsprechende Altersphasen besonders empfehlenswert oder eben nicht empfehlenswert. Dazu gibt es mittlerweile sehr viel Literatur. In der Psychologie gehen wir aufgrund der bisherigen Erkenntnisse in den Neurowissenschaften immer stärker in die Richtung: Je später, desto besser. Also den Kindern nicht zu früh den kompletten digitalen Einfluss bereitzustellen.

Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und gekürzt.