Ein Mähdrescher fährt über ein Getreidefeld in Eberstadt in Baden-Württemberg. Im Führerhaus sitzen der Chef des Bauernverbands und Cem Özdemir, was aber nicht direkt zu sehen ist.
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Getreide aus der Ukraine Darum wird Deutschland nicht mit Weizen überschüttet

Stand: 07.08.2023 06:03 Uhr

Deutsche Bauern treibt eine Sorge um: Billige Getreideimporte aus der Ukraine könnten die Preise ruinieren. Doch stimmt das überhaupt?

Von Christine Schneider, br

"Stell dir vor, in der Ukraine wird Weizen für 70 Euro pro Tonne verkauft." Schnell wird daraus ein Gerücht, das deutsche Landwirte besorgt: "Stell dir mal vor, ukrainischer Weizen kommt bei uns für 70 Euro pro Tonne auf den Markt."

Wäre das tatsächlich wahr, wäre es eine Hiobsbotschaft für deutsche Getreidebauern. Denn der Preis an der Börse liegt derzeit bei rund 235 Euro pro Tonne Brotweizen. Importierter Billigweizen könnte den Markt und somit auch Bauernhöfe hierzulande ruinieren. Soweit die Theorie. Aber wie sieht die Wirklichkeit aus?

Keine Zahlen aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium

Die Recherche ist mühsam. Fakt ist, viele Landwirte sind besorgt. Dann aber wird es vage. Viele haben gehört, dass jemand jemanden kennt, der gesagt hat, dass schon seit vielen Monate billiges Getreide aus der Ukraine auf dem deutschen Markt sei. Die Angst: Der Landhandel und die Mühlen würden natürlich die Billigware kaufen - egal, wie qualitativ schlecht sie sei - und der deutsche Bauer würde auf seinem Qualitätsweizen sitzen bleiben.

Doch wie viel Getreide kam in den vergangenen Jahren und kommt derzeit aus der Ukraine nach Deutschland? Eine Sprecherin des Bundeslandwirtschaftsministeriums sagt: "Wir wissen es nicht, wir haben keine genauen Zahlen." Und ungefähre?  "Es kommt Getreide aus der Ukraine in Deutschland an, aber wie viel, wissen wir nicht. Wir machen keine Statistiken."

Die Sprecherin erklärt dieses Nichtwissen so: Wenn Getreide aus der Ukraine über Polen nach Deutschland komme, passiere das ja innerhalb der EU, und was innerhalb des europäischen Binnenmarktes über welche Kanäle wohin laufe, werde nicht erfasst.

Kein Getreide aus der Ukraine in deutschen Mühlen

Ein Anruf beim Verband Deutscher Mühlen sorgt für Aufklärung. In deutschen Mühlen werden jährlich acht Millionen Tonnen Weizen verarbeitet, Getreide aus der Ukraine spiele dabei keine Rolle, erklärt Geschäftsführer Peter Haarbeck.

"Heuer wurden knapp 50.000 Tonnen Weizen aus der Ukraine nach Deutschland geliefert, diese Zahlen haben wir vom Statistischen Bundesamt. Aber dieses Getreide landet nicht in den Mühlen, sondern wird weitergehandelt oder landet in Futtertrögen."

Es könne allerdings sein, dass durch die jetzige politische Situation in Zukunft geringfügig mehr Getreide aus der Ukraine komme. "Aber diese kleine Menge erschüttert weder den Markt, noch hat sie Auswirkungen auf die Getreidepreise", so Haarbeck. Wovor also haben die Landwirte Angst?

Export über Solidaritätskorridore statt übers Schwarze Meer

Der Hintergrund: Schon bald nach Kriegsbeginn im Februar 2022 waren die normalen Handelsrouten für Getreideexporte aus der Ukraine über Häfen am Schwarzen Meer blockiert. Getreide, das Menschen in Afrika bräuchten, konnte nicht exportiert werden. Deshalb richtete man sogenannte "Solidarity Lanes" ein, Solidaritätskorridore über den Landweg.

Getreide kommt seitdem per Zug, Lkw oder mit Binnenschiffen - zollfrei und ohne viel Bürokratie - aus der Ukraine in die EU und soll über europäische Seehäfen nach Afrika verschifft werden. Weil Russlands Präsident Wladimir Putin vor Kurzem das Getreideabkommen über Exporte übers Schwarze Meer aufgekündigt hat, sollen nun diese "Solidarity Lanes" ausgebaut werden.

Getreide landet nicht am geplanten Zielort

Dagegen regt sich Widerstand. Bereits im Februar gingen polnische Bauern auf die Barrikaden und blockierten Grenzübergänge zur Ukraine. Denn das Getreide aus der Ukraine, das eigentlich den Hafen in Danzig an der Ostsee erreichen sollte, kam dort nicht an. Es blieb in Polen, sorgte für ein Überangebot, die Preise sanken, die polnischen Bauern konnten ihr Getreide nicht mehr verkaufen.

Auch Landwirte in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien protestierten. Die Folge: Sie bekommen jetzt Agrarhilfen aus dem EU-Haushalt und es wurden Schutzmaßnahmen verhängt. Bis 15. September 2023 darf kein zollfreies Getreide aus der Ukraine in diesen Staaten verbleiben.

Nationale Alleingänge schaden - aber wem?

Doch kaum waren diese Schutzmaßnahmen beschlossen, gab es Kritik in Deutschland. Jetzt lande der ukrainische Weizen über den Landweg durch Polen hier, so die Befürchtung deutscher Landwirte. Auch Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) betonte, der Weizen müsse unbedingt in Afrika landen, das Problem dürfe nicht nach Deutschland verlagert werden. Ende Juli kritisierte er im Agrarrat in Brüssel den Alleingang der Nationalstaaten Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien.

"Das schadet allen in der EU, Europa muss sich solidarisch zeigen und die Schutzmaßnahmen für Polen und die anderen Nachbarländer der Ukraine sollten nach dem 15. September nicht verlängert werden", erklärt eine Sprecherin von Özdemir. Auf die Frage, wem konkret das Verhalten von Polen schade und ob Özdemir durch seine Forderung die deutschen Bauern vor Billigimporten schützen wolle, gibt die Sprecherin keine Antwort.

Fußen Gerüchte auf russischer Propaganda?

Zurück zu den Gerüchten, ukrainischer Weizen würde für 70 Euro gehandelt. Ein bayerischer Landwirt mit guten Kontakten in die Ukraine berichtet, Brotweizen würde dort momentan für rund 130 Euro pro Tonne verkauft, und die Gerüchte sind seiner Meinung nach Teil der Kriegsstrategie Putins, um im Westen Stimmung gegen die Ukraine zu machen.

So sieht es auch Landwirt Dietrich Treis. Der gebürtige Hesse lebt und arbeitet seit 1990 in der Ukraine und ist Geschäftsführer eines Ackerbaubetriebs mit 4500 Hektar, 70 Kilometer östlich von Kiew. Sein Kommentar zu den Gerüchten über den ukrainischen Billigweizen: "Da sind wohl russische Trollfabriken am Werk."

Treis rechnet vor: von seinem Betrieb bei Kiew koste der Transport nach Deutschland mindestens 150 Euro pro Tonne, wer näher an der Grenze wohne, komme vielleicht auf 100 Euro. "Ein großer Händler zahlt bei uns für den Weizen ab Hof rund 95 Euro, und das ist nicht unbedingt der beste Preis. Warum sollte jemand in Deutschland für 70 Euro verkaufen und mit den Transportkosten draufzahlen? Wirtschaftlich macht das keinen Sinn. Es wäre billiger den Weizen auf die Müllkippe zu fahren."

BayWa und Bauernverband warnen vor Panikmache

Der Agrarhandelskonzern BayWa mit Sitz in München teilt mit, dass der Markt für Agrarrohstoffe wie Brotweizen hoch transparent sei, da sich der Preis an der Börse orientiere - und da lag der Tageskurs Mitte der Woche bei rund 238 Euro pro Tonne. Pressesprecherin Ante Krieger: "Insofern spricht vieles dafür, dass an dem Gerücht wenig bis gar nichts dran ist."

Auch beim Bayerischen Bauernverband (BBV) bezweifelt man, dass Preise weit unter dem Weltmarktniveau ein realistisches Szenario seien. Allerdings, so Pressesprecher Markus Drexler: "Die Landwirtinnen und Landwirte bewegt tatsächlich die Frage, welche Wege das ukrainische Getreide nehmen wird."

Der Bauernverband forderte bereits im Juli, ukrainisches Getreide, das für andere Regionen in der Welt bestimmt ist, dürfe nicht in den Handel des EU-Binnenmarktes einfließen. Beruhigend klingt dieser Satz aus der Marktberichtsstelle des BBV: "In den Händlergesprächen in der letzten Woche konnte kein verstärktes Angebot von Maklern aus dieser Region (Ukraine) festgestellt werden."

So läuft es in der Praxis

Es gibt Gerüchte, es gibt Zahlen auf dem Papier - und es gibt die Praxis. Beispiel 1: Ein Ackerbauer aus Sachsen berichtet, er wollte vor ein paar Wochen Raps an einen großen Händler verkaufen. Der Preis an der Börse lag bei 480 Euro pro Tonne, ein sehr guter Preis und somit ein guter Zeitpunkt zu verkaufen. Der Händler aber lehnte ab. Auf diesem hohen Preisniveau könne er den Raps nicht weiterverkaufen, denn alle würden warten, bis der Raps wieder billiger werde.

Beispiel 2: Ein Anruf Ende vergangener Woche bei einem BayWa-Lagerhaus in Oberbayern. Der Börsenpreis für Brotweizen von 235 Euro pro Tonne ist Theorie. Man zahle zwischen 190 und 200 Euro, heißt es bei der BayWa. Für Futterweizen gibt es nur 170 Euro. Schlechte Aussichten: Was in weiten Teilen Deutschlands jetzt nach dem Regen gedroschen wird, wird voraussichtlich größtenteils qualitativ schlecht - und somit nur noch Futterweizen sein.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 19. Juli 2023 um 14:00 Uhr.