Offshore-Windpark in der Nordsee bei Oostende

Energieversorgung Wie Deutschland unabhängiger werden will

Stand: 02.03.2022 08:21 Uhr

Erneuerbare Energien, Gas-Reserven, LNG oder ein verzögerter Kohle- oder Atomausstieg? Die Liste der Ideen, um Deutschland unabhängiger von russischem Gas zu machen, ist lang - und wird kontrovers diskutiert.

Von Till Bücker, ARD-Finanzredaktion

Angesichts eines möglichen Stopps der Gaslieferung Russlands als Antwort auf westliche Sanktionen will Deutschland in der Energieversorgung künftig unabhängiger sein. Dabei solle es keine "Denktabus" mehr geben, betonte zuletzt Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine ist Energiepolitik zur Sicherheitspolitik geworden. "Es ist nicht nur eine Frage von Klimaschutz, sondern wirklich von Sicherheit, da müssen wir eben alles geben", machte die Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, Franziska Brantner (Grüne), gestern im Deutschlandfunk deutlich. Viele neue Regelungen und Maßnahmen stehen dabei im Raum. Aber welche davon sind sinnvoll - und welche nicht?

100 Prozent Ökostrom bis 2035

An erster Stelle bei den Plänen stehen die erneuerbaren Energien. "Der wirkliche Weg zur energiepolitischen Unabhängigkeit ist der Ausstieg aus den fossilen Energien. Die Sonne und der Wind gehören eben niemandem", sagte Habeck. Auch Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner nennt die erneuerbaren Energien "Freiheitsenergien". Bereits zu Wochenbeginn brachte die Bundesregierung daher ein Gesetzespaket auf den Weg, mit dem unter anderem eine Vollversorgung mit Strom aus erneuerbaren Energien nicht mehr irgendwann "vor 2050", sondern schon bis 2035 möglich gemacht werden soll.

Aber ist dieses hohe Ziel überhaupt zu schaffen? "Es ist durchaus realistisch, es ginge sogar noch mehr: Wir könnten bis 2030 100 Prozent Ökostrom bei der Stromerzeugung haben und bis 2035 die gesamte Energiewirtschaft auf Ökoenergie umgestellt haben", meint Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), gegenüber tagesschau.de. Dafür müsse allerdings das Ausbautempo massiv erhöht werden - etwa bei der Windkraft. Bis 2030 seien pro Tagen sieben neue Windanlagen und mittelfristig auch mehr Speicher nötig.

Der Leiter der Redaktionsgruppe "Energie für Deutschland" des Berliner Weltenergierats, Hans-Wilhelm Schiffer, ist etwas vorsichtiger. Denn der Anteil erneuerbarer Energien am Brutto-Stromverbrauch in Deutschland habe sich von sechs Prozent im Jahr 2000 lediglich auf 42 Prozent im Jahr 2021 erhöht. "Um das 80 Prozent-Ziel im Jahr 2030 zu erreichen, muss somit mindestens der gleiche Zuwachs wie in den letzten zwei Dekaden realisiert werden, also fast 40 Prozentpunkte - dies aber in weniger als der Hälfte der Zeit", betont der Energieexperte. Das Ausbautempo müsse sich also mehr als verdoppeln. Erforderlich sei neben der Beschleunigung der Genehmigungsverfahren und der vermehrten Ausschreibung zusätzlicher Flächen auch ein schnellerer Ausbau der Stromnetze.

Sanierungen im Gebäudebereich nötig

Spätestens im Juli soll das neue Gesetz des Wirtschaftsministeriums in Kraft treten. Die Eckpunkte: Die Leistung von Windenergie an Land bis 2030 auf bis zu 110 Gigawatt verdoppeln, bei der Windenergie auf See bis 2030 eine Leistung von 30 Gigawatt erreichen und die Solarenergie auf 200 Gigawatt mehr als verdreifachen. Um das zu schaffen, sollen unter anderem die Solar-Fördersätze für Hausdächer - sprich die garantierten Abnahmepreise für den dort erzeugten Strom - erhöht werden. Bis die Windräder, Solaranlagen und Wasserkraftturbinen allerdings in Betrieb sind, könnte es dauern.

Dazu kommt, dass bei einem Stopp der Gaslieferungen aus Russland nicht nur der Stromsektor, sondern überwiegend die Industrie und der Wärmemarkt betroffen sind. Knapp 50 Prozent der Bestandswohnungen werden hierzulande noch mit Gas beheizt. Und dennoch: "Grundsätzlich sind die erneuerbaren Energien in der Lage, auch im Wärmemarkt Erdgas zu ersetzen", sagt Schiffer im Gespräch mit tagesschau.de. Das könne über Solarthermie, Biogas, Fernwärme oder mittels elektrischer Wärmepumpe erfolgen. Letztere seien inzwischen die wichtigste installierte Heizenergiequelle in Neubauten. Dies erhöhe wiederum den Stromverbrauch.

Dem pflichtet auch Kemfert bei: "Im Gebäudebereich muss energetisch saniert werden, und die notwendige Energie durch erneuerbare Energien hergestellt werden - beispielsweise durch PV in der Kombination mit Batteriespeichern und dem Einsatz von Wärmepumpen." Existierendes Erdgas in der Nah- und Fernwärme-Versorgung könne zu großen Teilen auf Biogas umgestellt werden.

Kommt ein Einbaustopp von Gasheizungen?

Zusätzlich sollen Privatleute und die Industrie in Zukunft weniger Gas verbrauchen. Habeck kündigte bereits einen "Gasreduktionsplan" an, der unter anderem ein Verbot von Gasheizungen bei Neubauten beinhalten könnte. "Ein Gas- und auch Ölheizungs-Einbaustopp ist sinnvoll und absolut notwendig. Dafür müssen die finanziellen Mittel bereitgestellt werden, damit die energetische Gebäudesanierung sehr viel schneller als bisher durchgeführt wird", so Kemfert. Energieeffiziente Gebäude sollten demnach selbst Ökostrom produzieren und diesen gleichzeitig mit einer Wärmepumpe nutzen.

Um trotzdem auf ein völliges Ende des russischen Gases vorbereitet zu sein und mögliche Engpässe im Winter zu vermeiden, plant das Wirtschaftsministerium darüber hinaus Vorgaben für Mindestfüllstände der Gasspeicher gesetzlich festzulegen. Sie sollen bis Dezember zu 90 Prozent und im Februar noch mindestens zu 40 Prozent gefüllt sein, heißt es im Gesetzentwurf. Die Speicher können insgesamt etwa ein Viertel des pro Jahr benötigten Erdgases aufnehmen.

"Die Einführung einer staatlichen Gasreserve ist sinnvoll und überfällig. Wir fordern sie schon seit über zehn Jahren. Sie macht uns unabhängiger von fossilen Energiekrisen und kann uns im Notfall 90 Tage mit Gas versorgen", erklärt DIW-Expertin Kemfert. Schiffer sieht darin ebenfalls eine "geeignete Vorsorge-Maßnahme". So könnten Ausschreibungen von Gasmengen, die von den Marktteilnehmern in Gasspeichern vorgehalten und bei Abruf zur Verfügung gestellt werden, vorgesehen werden.

Wende bei Atomenergie eher unwahrscheinlich

Dass die Lage durchaus ernst ist, zeigt auch die Diskussion über einen späteren Atomausstieg. Einige Wirtschaftsminister der Bundesländer hätten sich für eine Prüfung längerer Laufzeiten von Atomkraftwerken in der Bundesrepublik ausgesprochen, berichtete Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) am Montag nach einer Sondersitzung mit seinen Länderkollegen. Selbst Grünen-Politiker Habeck schloss am Wochenende nicht kategorisch aus, die Laufzeit der letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland über 2022 hinaus zu verlängern.

Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Gründe) lehnt längere AKW-Laufzeiten dagegen trotz der besonderen Lage ab. Aus Sicherheitsgründen sei das unverantwortbar, sagte sie der Nachrichtenagentur Reuters. Auch Kemfert bezeichnet einen späteren Atomausstieg als "absolut unsinnig und auch kontraproduktiv". "Die sechs Prozent Stromerzeugung, die aktuell Atomkraftwerke noch leisten, sind leicht durch erneuerbare Energien zu ersetzen", so die Ökonomin. Der Rückbau der Atomkraftwerke sei irreversibel - zumal auch Uran teilweise aus Russland importiert werden müsste.

Habeck will eine weitere Nutzung der Atomenergie in Deutschland zwar nicht "ideologisch abwehren", hält sie aber ebenfalls für ungeeignet. Die Vorprüfung seines Ministeriums habe ergeben, dass die Atomkraft für den Winter 2022/23 keine Hilfe wäre. Die Vorbereitungen für die anstehenden Abschaltungen seien so weit fortgeschritten, dass die AKW "nur unter höchsten Sicherheitsbedenken und möglicherweise mit noch nicht gesicherten Brennstoffzulieferungen" weiter betrieben werden könnten. Auch die Betreiberfirmen e.on, RWE und EnBW hatten jüngst betont, dass die Debatte über einen Atomausstieg zu spät komme. Rein technisch wäre es auf die Schnelle schwierig und auch das nötige Fachpersonal drohe auszugehen.

Atom und Kohle als "Bremsen der Energiewende"?

Des Weiteren wird auch das angepeilte Datum des Kohleausstiegs bis "idealerweise 2030" infrage gestellt und soll überprüft werden. "Wir müssen erstmal sehen, dass wir in Deutschland die Energieversorgung rund um die Uhr sichern und da wird und muss die Kohle natürlich in der Diskussion eine Rolle spielen", sagte Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) dem rbb. Expertin Kemfert sieht das anders: "Wie immer machen wir den Fehler, zu lange an der Vergangenheit festhalten zu wollen und so die echte und dringend benötigte Energiewende zu behindern. Statt Laufzeitverlängerungen von Atom und Kohle brauchen wir einen Booster für erneuerbare Energien."

Eine Verlängerung von Kohle verlängere auch die Abhängigkeit von fossilen Energieimporten und sei eine Bremse in der Energiewende. "All diejenigen, die sofort vorschlagen, mehr Kohle zur Stromerzeugung einzusetzen, verschweigen, dass dies nicht nur die Abhängigkeiten von Kohle-Lieferländer wie Russland erhöht, sondern vor allem die Strompreise steigen lässt." Dass jetzt der Kohleausstieg 2030 infrage gestellt werde, kann auch Wirtschafts-Staatssekretär Oliver Krischer (Grüne) nicht nachvollziehen. "Das ist in acht Jahren, dann sind wir hoffentlich mit den Erneuerbaren Energien da, wo wir hin wollen", sagte er im ARD-Morgenmagazin.

Für Schiffer ist ein späterer Kohleausstieg ein "Hebel, der einfacher umsetzbar ist, als die Verschiebung des Atomausstiegs". Kohlekraftwerke, die in die Sicherheitsreserve eingestellt wurden, könnten somit für einen verlängerten Zeitraum genutzt werden. "Auf die in diesem Jahr zur Stilllegung vorgesehenen Stromerzeugungskapazitäten könnte vorläufig verzichtet werden. Bei Braunkohle sind wir ohnehin unabhängig von ausländischen Lieferquellen", so der Fachmann. Anders sei die Situation bei Steinkohle, die zu 100 Prozent aus dem Ausland komme - teils aus Russland. Hier biete aber der Weltmarkt die Möglichkeit, auf andere Lieferanten zurückzugreifen. Ob der Kohleausstieg in Deutschland 2030 erfolgt, müsse deshalb nicht kurzfristig entschieden werden.

Auch LNG kontrovers diskutiert

Die Herausforderung sei erst einmal, in diesem und im kommenden Jahr die Energieversorgung sicherzustellen, sagte Grünen-Politiker Krischer. Die Bundesregierung bemühe sich bei Gas und auch bei Kohle um Diversifizierung, um die fatale Abhängigkeit von Russland zu reduzieren. Mittelfristig entscheidend seien hier alternative Bezugsquellen, so Krischer. So solle die noch fehlende Infrastruktur für den Import von verflüssigtem Erdgas (LNG) geschaffen werden - auch wenn es dabei um klimaschädliches Frackinggas aus den USA gehe.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte am Sonntag angekündigt, auf den zügigen Bau von Flüssiggas-Terminals in Deutschland zu setzen. Wichtigster Handelspartner der EU beim Import von LNG war zuletzt Katar, gefolgt von den USA und Russland. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hält die Pläne der Regierung für verfrüht und verweist darauf, dass sich die Terminals nur nach jahrelanger Bauzeit realisieren ließen und die Abhängigkeit von fossilem Gas zudem weiter erhöhen würden. "Mit dem Bau von LNG-Terminals würden wir nur von Krise zu Krise schlittern", warnte die Organisation. Die Organisation Ende Gelände äußerte sich ähnlich und kündigte Widerstand gegen "weitere Investitionen in fossile Infrastruktur wie LNG-Terminals" an.

"Der Bau neuer Flüssiggasterminal ist nicht sinnvoll, anders als noch vor 15 Jahren. Sie sind teuer, der Bau dauert Jahre, und sie reduzieren die Abhängigkeit von fossilen Energieimporten nicht", sagt auch Kemfert. Stattdessen seien Wasserstoff-Terminals nötig, denn im Zuge der Energiewende brauche vor allem die Industrie grünen Wasserstoff. Experte Schiffer verweist auf eine mögliche Kombination aus beiden Wegen: "Sowohl die LNG-Terminals als auch die ausgebauten Leitungen können langfristig auch für grünen Wasserstoff genutzt werden." Generell helfen LNG-Terminals laut Schiffer weiter. Bis zu ihrer Fertigstellung frühestens Mitte der 2020er Jahre brauche es aber Zeit. Zudem müsse auch die Leitungsinfrastruktur ausgebaut werden, um das LNG aus den Niederlanden, Belgien oder Südeuropa zu importieren.

Martin Polansky, Martin Polansky, ARD Berlin, 02.03.2022 09:38 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 23. Februar 2022 um 14:00 Uhr.