Herabhängende Deutschlandfahne vor dunklen Regenwolken
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Deutsche Wirtschaft in der Krise Wieder der "kranke Mann Europas"?

Stand: 07.08.2023 19:01 Uhr

Während andere Länder wachsen, kommt die deutsche Wirtschaft nicht voran. Firmen beklagen hohe Energiepreise, Bürokratie und Fachkräftemangel. Was sind die Gründe der Konjunkturkrise? Ein Überblick.

Den "kranken Mann" des europäischen Währungsraums nannte das britische Wirtschaftsmagazin "Economist" Deutschland um die Jahrtausendwende. Damals wurde die Bundesrepublik wirtschaftlich von seinen Nachbarn abgehängt. Erst mit Reformen des Arbeitsmarktes und des Sozialsystems begann später eine ökonomische Aufholjagd - und die deutsche Wirtschaft wurde vom selben Magazin gelobt. Wiederholt sich die Geschichte?

Viele wichtige Konjunkturdaten in Deutschland weisen nach unten, es fehlt an wirtschaftlicher Dynamik, während andere Industriestaaten wieder wachsen. Manche sprechen erneut vom "kranken Mann Europas". Wie steht es aktuell um die deutsche Wirtschaft? Und welche Schwächen werden gerade deutlich?

Drei Quartale in Folge kein Wachstum in der deutschen Wirtschaft

M. Reher/L. Wurscher, RBB, tagesschau, 07.08.2023 20:00 Uhr

Wie geht es der deutschen Wirtschaft?

Deutschlands Wirtschaft steckt in einer Konjunkturflaute, der erhoffte Frühjahrsaufschwung ist ausgeblieben. Als wichtigstes Maß für die wirtschaftliche Leistung gilt das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Es bildet den im Inland produzierten Wert aller Waren und Dienstleistungen innerhalb eines Jahres ab. Im Winterhalbjahr war die deutsche Wirtschaft mit zwei Minusquartalen in Folge in eine sogenannte technische - also kurzfristige - Rezession gerutscht. Ein wichtiger Grund hierfür war die hohe Inflation, die die Ausgabefreude der Menschen dämpfte. Nachdem das BIP in den beiden vorangehenden Quartalen gefallen war, stagnierte die deutsche Wirtschaft im zweiten Quartal.

Wird es bald wieder besser?

Mit einem plötzlichen Aufschwung ist zunächst wohl nicht zu rechnen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet für dieses Jahr ein Schrumpfen der deutschen Wirtschaft um 0,3 Prozent, auch die Bundesbank rechnet mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in diesem Umfang. Die Bundesregierung geht laut der im April vorgelegten Frühjahrsprojektion für dieses Jahr dagegen von einem BIP-Plus von 0,4 Prozent aus. Die Wirtschaftsweisen sagten in ihrer Wachstumsprognose vom März immerhin ein Mini-Wachstum von 0,2 Prozent voraus.

Was sagen andere Indikatoren?

Es gibt neben den Wachstumszahlen weitere wichtige Konjunkturbarometer, die einen Überblick über die wirtschaftliche Lage bieten. Einer davon ist der ifo-Geschäftsklimaindex. Jeden Monat werden deutsche Unternehmen befragt, wie sie die aktuelle und kommende Geschäftslage einschätzen. Und auch hier sieht es derzeit nicht rosig aus: Im Juli ist der ifo-Index das dritte Mal in Folge gesunken. Ökonomen interpretieren drei Rückgänge hintereinander normalerweise als konjunkturellen Wendepunkt.

Wie groß ist die Belastung durch die Inflation?

Die hohe Inflation ist seit Monaten eine Belastung für Verbraucherinnen und Verbraucher und zehrt an ihrer Kaufkraft. Die Menschen können sich für ihr Geld weniger leisten. Viele schränken ihren Konsum daher ein. Das hat Folgen für die Konjunktur, für die der Privatkonsum eine wichtige Stütze ist.

Zwar hat sich nach dem jüngsten Anstieg die Inflation im Juli wieder etwas abgeschwächt. Die Verbraucherpreise stiegen gegenüber dem Vorjahresmonat um 6,2 Prozent. Dennoch ist die Inflation von der Zielrate der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent immer noch weit entfernt. Volkswirte machen deutschen Verbrauchern zudem wenig Hoffnung auf eine schnelle durchgreifende Entspannung bei den Preisen. Eine aktuelle Umfrage des ifo-Instituts deutet darauf hin, dass die Teuerung eher langsam zurückgehen wird.

Wie geht es dem deutschen Arbeitsmarkt?

Die schwache Konjunktur wirkt sich auch zunehmend auf den Arbeitsmarkt aus. Dass die Arbeitslosenzahlen wegen der Sommerpause im Juli steigen, ist normal. Doch im vergangenen Jahr sah es noch besser aus. Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland stieg im Juli auf 2,617 Millionen. Das waren laut Bundesagentur für Arbeit 62.000 mehr als im Juni und 147.000 mehr als vor einem Jahr. Die Arbeitslosenquote erhöhte sich im Juli leicht um 0,2 Prozentpunkte auf 5,7 Prozent. Die Nachfrage nach Arbeitskräften sei weiterhin zurückhaltend, sagte Arbeitsagentur-Chefin Andrea Nahles. Im Juli waren 772.000 offene Stellen bei der Bundesagentur gemeldet und damit 108.000 weniger als vor einem Jahr. 

Was sagen Unternehmensverbände zur Lage?

"Die Konjunkturindikatoren zeigen leider alle nach unten, also komplett in die falsche Richtung", sagte Industriepräsident Siegfried Russwurm. Laut aktuellem IWF-Wachstumsausblick sei die deutsche Volkswirtschaft die einzige unter den 22 untersuchten Ländern und Regionen, in der das Bruttoinlandsprodukt im laufenden Jahr zurückgehe. "Das muss ein Industrie- und Exportland, wie es Deutschland ist, alarmieren."

Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, sagte: "Wir befinden uns in einer Rezession. Auch die Inflation hält sich hartnäckiger als gedacht. Wir haben mit die höchsten Energiekosten, wir haben mit die höchsten Steuern und Lohnzusatzkosten. Wir haben eine marode Infrastruktur. Diese Probleme mischen sich mit Fachkräftemangel, verschlafener Digitalisierung und der Dekarbonisierung." Die Stimmung in den Unternehmen trübe sich ein, das Investitionsklima sei nicht gut. Deutschland müsse vor allem schneller und digitaler werden, nötig seien zudem weniger Steuern und Lohnzusatzkosten.

Handwerkspräsident Dittrich sagte, den meisten Betrieben gehe es aktuell noch gut. "Allerdings ist die Stimmung schlecht - sogar bei denen, die wirtschaftlich gut dastehen. Die Kostenschübe durch höhere Materialkosten, Inflation, Lohnsteigerungen und vor allem durch weiter steigende Sozialabgaben sind gewaltig." Darunter leide die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe, ihre Zukunftsperspektiven gerieten unter Druck.

Wie sieht es in Nachbarländern aus?

Die Eurozone insgesamt ist im zweiten Quartal gewachsen - wenn auch nur um minimale 0,3 Prozent. Die spanische Wirtschaft legte um 0,4 Prozent zu, die französische um unerwartete 0,5 Prozent. Nur in Italien lief es noch schlechter als in Deutschland, dort schrumpfte die Wirtschaft um 0,3 Prozent. Auch die Verbraucherpreise der Eurozone steigen langsamer als in Deutschland. Im Juli erhöhten sich die Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr um 5,3 Prozent - nach 5,5 Prozent im Vormonat.

Warum leidet gerade die deutsche Wirtschaft so?

Dafür gibt es nicht die eine Erklärung, aber ein paar Ansätze. So profitiert die deutsche Wirtschaft von ihrer starken Industrie, gleichzeitig ist sie dadurch besonders anfällig etwa für die Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Der Umbau der Energieversorgung und die weiter hohen Energie- und Materialpreise belasten viele Firmen stark. Gewerkschaften fordern daher einen Industriestrompreis. DGB-Chefin Yasmin Fahimi sagte: "Viele energieintensive Unternehmen kommen in Schwierigkeiten wegen der viel zu hohen Energiepreise in Deutschland, die dem internationalen Wettbewerb nicht standhalten."

Die Industrie stellte im Juni 1,3 Prozent weniger her als im Vormonat. Wirtschaftsverbände warnen bereits vor einer schleichenden Deindustrialisierung, da Unternehmen etwa wegen hoher Energiekosten ihre Produktion ins Ausland verlagern könnten.

Besonders deutlich sank im Juni - um 3,5 Prozent im Monatsvergleich - die Produktion in der Autoindustrie. Das liegt auch an den schwächelnden Exporten, etwa nach China: Im Juni sanken die deutschen Ausfuhren in die Volksrepublik um 5,9 Prozent. Die Ausfuhren von deutschen Autos beziehungsweise Autoteilen in die Volksrepublik gingen laut dem Institut der deutschen Wirtschaft im ersten Quartal sogar um 26 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurück.

Die wirtschaftliche Schwäche Chinas mache sich deutlich bei den deutschen Exporten bemerkbar, analysierte Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der Lichtensteiner VP Bank. Nach seiner Einschätzung bezieht die aktuelle Diskussion um den "kranken Mann Europas" das schwache weltwirtschaftliche Umfeld zu wenig ein, unter dem die exportorientierte deutsche Wirtschaft besonders leide. Aus Sicht von ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski "ist der Handel nicht mehr wie früher der starke, belastbare Wachstumsmotor der deutschen Wirtschaft, sondern eher eine Bremse".

Was bedeutet die Konjunkturschwäche für Firmen?

Die konjunkturelle Flaute bekommen große Konzerne ebenso wie kleine und mittelständische Unternehmen zu spüren. So hat der weltweit größte Chemiekonzern BASF im zweiten Quartal einen Gewinneinbruch erlitten. Der Vorstand hatte nach einem deutlichen Ergebnisrückgang im Jahr 2022 unter anderem wegen der hohen Energiekosten und der schwachen Konjunktur angekündigt, unter dem Strich weltweit 2600 Stellen zu streichen. 

Auch im Maschinenbau ist vorerst kein Ende der Auftragsflaute in Sicht. Nach einem weiteren Rückgang der Bestellungen im Juni verzeichnete die wichtige deutsche Branche laut ihrem Verband VDMA im ersten Halbjahr preisbereinigt (real) ein Minus gegenüber dem Vorjahreszeitraum von 14 Prozent. "Zahlreiche Unternehmen zehren zwar noch von hohen Auftragsbeständen, bei den Neubestellungen wird die Luft aber langsam eng. Eine Trendwende ist bisher nicht in Sicht", sagte VDMA-Chefvolkswirt Ralph Wiechers.

Zudem steigt die Zahl der Insolvenzen in Deutschland wieder deutlich an. 8.400 Firmenpleiten registrierte die Wirtschaftsauskunftei Creditreform in den ersten sechs Monaten dieses Jahres - eine Steigerung von 16,2 Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr 2022. Eine höhere prozentuale Zunahme gab es nach Angaben der Experten zuletzt 2002. Und Besserung ist nicht in Sicht: "Ein weiterer Anstieg der Insolvenzen ist zu erwarten", prognostizierten die Experten.

Wie reagiert die Politik?

Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat knapp 50 steuerpolitische Maßnahmen vorgeschlagen, die die Wirtschaft entlasten sollen: zusammengefasst unter dem sogenannten "Wachstumschancengesetz". Kernelement ist die im Koalitionsvertrag angekündigte Prämie für Investitionen in den Klimaschutz. Die Wirtschaft soll damit jährlich um rund sechs Milliarden Euro entlastet werden.

Aus dem Finanzministerium hieß es, die Wirtschaft brauche dringend Impulse für bessere Standortbedingungen. Dafür brauche es eine kluge Angebotspolitik und verstärkte Anreize für private Investitionen. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte von Lindner dagegen stärkere Entlastungen der Wirtschaft verlangt. Er forderte eine zielgerichtete Unterstützung für Investitionen, steuerliche Abschreibungen und für eine Übergangszeit einen niedrigeren Industriestrompreis. Der Entwurf ist in der Regierung noch nicht abgestimmt. Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang sagte am Wochenende der "Bild am Sonntag": "Die Stärkung der Wirtschaft wird das erste Thema sein, das die Bundesregierung in den nächsten Wochen in Angriff nehmen muss."

CSU-Chef Markus Söder forderte hingegen ein Konjunkturprogramm, mit dem Industrie, Mittelstand und Handwerk stabilisiert werden sollen. Finanzminister Lindner und Wirtschaftsminister Habeck lehnten dies ab.

Was könnte gegen die Konjunktur-Krise helfen?

Die Lösungsansätze gegen einen wirtschaftlichen Abwärtstrend sind so vielfältig wie komplex. Im "Handelsblatt" präsentierten zehn Ökonominnen und Ökonomen jüngst Vorschläge, um Deutschland wieder auf den Wachstumspfad zu bringen. Die Wirtschaftsexperten regen etwa eine Senkung der Körperschaftssteuer an, die Streichung von Strom-Abgaben oder die Abschaffung der Rente mit 63.

"Es geht längst nicht nur um Geld: Wir machen keine Fortschritte beim Bürokratieabbau", kritisierte Industriepräsident Russwurm. "Wir machen keine Fortschritte beim Thema Genehmigungsbeschleunigungen." Auch gebe es zu wenig Fortschritte bei den Bemühungen, das Energiesystem der Zukunft und seine Kosten in den Griff zu bekommen. Die Ampel-Koalition müsse "Zielkonflikte" lösen und klären, ob und wie sie die richtigen Prioritäten setze.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), sprach sich in den den Zeitungen der Funke Mediengruppe gegen ein Konjunkturprogramm mit weiteren Subventionen und Steuersenkungen aus. Deutschland habe kein konjunkturelles, sondern ein strukturelles Problem. Für erfolgversprechender hält Fratzscher "ein langfristig angelegtes Transformationsprogramm, mit einer Investitionsoffensive, einer breit angelegten Entbürokratisierung und einer Stärkung der Sozialsysteme". Auch müsse die Bundesregierung "ihre engstirnige Obsession mit der Schuldenbremse in diesen Krisenzeiten aufgeben".

Mit Informationen von Antonia Mannweiler, ARD-Finanzredaktion.