Ein Relief in der Frauenkirche in München zeigt Papst Benedikt XVI.
Kommentar

Missbrauchsgutachten Zu spät für Gerechtigkeit

Stand: 21.03.2023 18:09 Uhr

Die Staatsanwaltschaft München I hat die Ermittlungen nach dem 2022 vorgelegten Missbrauchsgutachten für das Erzbistum München und Freising abgeschlossen. Das Ergebnis ist ernüchternd.

Ein Kommentar von Simon Berninger, BR

"Fragwürdige Personalentscheidungen", sagt der Leiter der Staatsanwaltschaft München I, Hans Kornprobst, habe es im Erzbistum München und Freising "sicherlich eine ganze Reihe" gegeben. Nachzulesen sind sie im Missbrauchsgutachten, das die Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl (WSW) im Auftrag der oberbayerischen Erzdiözese erstellt hat. Was die Gutachter für noch strafrechtlich relevant hielten, gaben sie an die Staatsanwaltschaft - und die ermittelte. 

Doch nach den heute präsentierten Ergebnissen der eigens eingerichteten "Einsatzgruppe Kelch" wird es, ja, kann es keine weiteren strafrechtlichen Verfolgungen geben: die Verfahren - allesamt eingestellt. Die fraglichen Taten seien inzwischen verjährt - und damit auch eine mögliche spätere "Beihilfe" durch kirchliche Vorgesetzte, um die es ausschließlich ging. "Beihilfe" heißt es auf Juristendeutsch, wenn Bischöfe oder Generalvikare Missbrauchstäter wieder oder weiterhin im Nahbereich von Kindern einsetzen - und es, so verlangt es das Strafrecht, tatsächlich auch erneut zu Missbrauch kommt.

Verjährt ist verjährt

Für die Betroffenen, auch solche, die aus Lehren der Vergangenheit hätten verhindert werden können, gibt es in diesen Fällen also keine späte Genugtuung. Verjährt ist verjährt. Insofern zeigt der Sachstand in München einmal mehr wie im Brennglas, dass sich die Kirche viel zu spät dem Thema Missbrauch gestellt hat.

Da bringt es auch nichts, dass nun die weltliche Justiz auf den Plan gerufen ist und beteuert, die Kirche nicht "mit Samthandschuhen" anzupacken. Die Wortwahl des leitenden Staatsanwalts sollte den Vorwurf entkräften, seine Behörde habe "Hemmungen, gegen einen Geistlichen zu ermitteln". Fakt ist: Schon 2010 bekam die Münchner Staatsanwaltschaft I ein nicht veröffentlichtes Gutachten vom Erzbistum München und Freising auf den Tisch. Aktiv geworden ist die Behörde damals aber nicht.

Keine Beihilfe zu Missbrauch nachweisbar

Ob Verjährungsfristen im Gutachten von 2010 damals noch nicht verstrichen waren, bleibt offen. Nach heute steht indessen fest: Auch da, wo noch keine Verjährung eingetreten ist, kommt per se noch kein Prozess ins Rollen. Dafür muss auch bewiesen sein, dass der Personaler im Ornat um begangene Taten seines Dienstbefohlenen wusste, sie weiterhin in Kauf genommen und gebilligt hat.

"In dubio pro reo", im Zweifel für den Angeklagten: Im Fall München gilt das für den früheren Erzbischof Joseph Ratzinger, dem späteren und inzwischen verstorbenen Papst Benedikt XVI., sowie dessen Nachfolger Friedrich Wetter. Beiden konnte die Staatsanwaltschaft eben keine "Beihilfe" zu Missbrauchstaten nachweisen.

Vertuschungen im "Giftschrank"

Da nutzte auch die Suche nach einem sogenannten Giftschrank im erzbischöflichen Ordinariat nichts. Darin hätten sich Zeugen zufolge stichhaltige Hinweise auf Vertuschungen finden lassen. Den Giftschrank gab es wohl tatsächlich. Der sensible Inhalt wurde aber auf Veranlassung des heutigen Erzbischofs Reinhard Marx den Personalakten zugeordnet. Sie belegen bewusste Verklausulierungen à la "schwierige persönliche Situation", was die Staatsanwaltschaft als Code für Missbrauchstaten erkannte - allein: zu spät für eine Anklage.

Und dennoch: Akten dokumentieren eben nicht immer Fakten - auch das ist ein Lehrstück, mit dem künftige Gutachter und etwaige Staatsanwaltschaften rechnen müssen. Sofern es bei künftigen Gutachten der Diözesen nicht ohnehin so sein wird wie in München, dass die darin zusammengetragenen Fälle sexuellen Missbrauchs nicht auch schon verjährt sind. In der Mehrheit der deutschen Diözesen liegt ein bistumseigenes Gutachten jedenfalls bis heute nicht vor.

Für viele Bistümer dürfte das auch eine Kostenfrage sein. Zur Veranschaulichung: Für ihr rund 1800 Seiten umfassendes Gutachten stellte die Kanzlei dem Erzbistum München und Freising rund 1,45 Millionen Euro in Rechnung. Das mag so manches klamme Bistum abschrecken. Die Gläubigen quittieren das einstweilen auf ihre Art - und treten aus.

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