Der Aktenordner des Bundestagsabgeordneten de Masi (Die Linke) mit Fahndungsfotos des früheren Wirecard-Finanzvorstands Jan Marsalek ist im Sitzungssaal zum Bilanzskandal Wirecard im Paul-Löbe-Haus zu sehen.
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Wirecard Ein Ex-Spion und viele Fragen

Stand: 27.05.2022 18:00 Uhr

Ein österreichischer Ex-Agent soll mehr als 300 Personen ausspioniert haben, einige davon im Auftrag des flüchtigen Wirecard-Managers Jan Marsalek. Zu den Ausgespähten zählt nach Recherchen von WDR und SZ ein Agentenpaar.

Jan Marsalek trat kaum öffentlich in Erscheinung - und das obwohl er zur Führungsriege des deutschen Dax-Konzerns Wirecard gehörte. Hinter den Kulissen war er umso präsenter. Der Österreicher pflegte zahlreiche Bekanntschaften und Kontakte: in die Finanzwelt, die Wirtschaft, die Politik - und in die Geheimdienste.

Letztere Beziehungen soll der flüchtige Manager, der wegen Betruges in Milliardenhöhe von der Münchner Staatsanwaltschaft gesucht wird, genutzt haben, um an brisante Informationen zu gelangen. Informationen, die nicht öffentlich zugänglich waren, und bei denen bis heute nicht klar ist, wozu Marsalek sie eigentlich brauchte.

Ein Agent aus Österreich

Egisto O. soll einer dieser Menschen gewesen sein, die für Jan Marsalek Informationen beschafft haben - und zwar über einen Mittelsmann. O. war viele Jahre lang Polizist und später Mitarbeiter im österreichischen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), das nach zahlreichen Skandalen inzwischen reformiert wurde und anders heißt.

Gegen O. wird nun schon seit Monaten ermittelt. Die Wiener Staatsanwaltschaft wirft dem ehemaligen Geheimdienstler vor, "Staatsgeheimnisse" verraten zu haben - teilweise gegen Geld. O. soll Datensätze zu zahlreichen Personen ohne dienstlichen Grund abgefragt haben. Er selbst bestreitet das, spricht von einer Intrige und erklärt, er habe auf die besagten Datenbanken gar keinen Zugriff gehabt.

Ausgespähte offenbar auch in Deutschland

Die mutmaßliche Informationsbeschaffung beschäftigt inzwischen auch deutsche Behörden. Nach Recherchen von WDR und SZ besteht der Verdacht, dass der ehemalige Agent Egisto O. auch Personen aus der Bundesrepublik ausgespäht haben könnte. Darunter einen ehemaligen Geheimdienst-Koordinator und einen russischen Spitzel aus einem der spektakulärsten Spionagefälle in der Bundesgeschichte.

Österreichische Ermittler fanden auf dem Mobiltelefon, dem Computer und in Notizen von Egisto O. zahlreiche Namen von Personen, zu denen der Ex-Agent offenbar recherchiert hatte. Er soll dazu Datenbanken von Behörden abgefragt haben, über ausländische Kollegen auch bei Interpol und Europol. Mindestens seit 2015, so glaubt die Wiener Staatsanwaltschaft, soll O. auf diese Weise Informationen beschafft und verkauft haben. Und zwar auch noch als er bereits wegen eines Spionageverdachts vom Dienst suspendiert worden war.

Einer der Auftraggeber soll ein anderer ehemaliger BVT-Mitarbeiter gewesen sein, der wiederum für Jan Marsalek gearbeitet haben soll. Dieser Ex-Geheimdienstler soll mehrere Personenabfragen bei Egisto O. bestellt haben, darunter nach eigenen Angaben rund zehn für Marsalek. Dabei soll es sich vor allem um Geschäftspartner und auch Konkurrenten von Wirecard gehandelt haben. Marsalek habe wohl wissen wollen, ob diese Personen für Geheimdienste tätig seien, sagte der Ex-Geheimdienstler den Ermittlern im vergangenen Jahr.

Mehr als 300 Personen auf der Liste

Die gesamte Liste jener Personen, die Egisto O. ausgespäht haben soll, und die österreichische Ermittler zusammengestellt haben, ist lang. Sie umfasst 309 Namen. Darunter befinden sich allerlei Vertreter aus Politik und Wirtschaft, ein bekannter FPÖ-Mann beispielsweise, ein russischer Milliardär, ein kasachischer Ex-Politiker, der heute im französischen Exil lebt. Oder auch der Sohn des russischen Konsuls in München und sogar Familienangehörige von Jan Marsalek.

Aber die Liste enthält auch andere, durchaus illustre Namen. Julian Hessenthaler etwa steht darauf, jener Detektiv, der das "Ibiza-Video" erstellt hat, über das im Mai 2019 die Regierung in Wien stürzte. Eine Russin, die sich in Londoner Politik-Kreisen bewegte und die der britische Geheimdienst für eine Spionin hält, gehört auch dazu. Ebenso Bernd Schmidbauer, genannt "008", der in den 1990er Jahren der Geheimdienstkoordinator in der Regierung von Helmut Kohl war. Auf Nachfrage erklärt Schmidbauer, er wisse nicht wie und warum er auf der Liste gelandet sei.

Ein berühmtes Spionage-Paar

Und noch jemanden aus Deutschland soll Egisto O. in Datenbanken abgefragt haben: Andreas Anschlag. Der Name ist eine Tarnidentität, bis heute ist nicht bekannt, wie der Mann wirklich heißt. Anschlag war mehr als zwei Jahrzehnte als russischer Spion in Deutschland aktiv - gemeinsam mit seiner Frau Heidrun, die ebenfalls für den Geheimdienst arbeitete. Die Anschlags waren sogenannte "Illegale", Spitzel, die mit einer aufwendig konstruierten Biografie und ohne offizielle Tarnung, etwa als Diplomaten, in ein Zielland eingeschleust werden.

Ende der 1980er Jahre war das russische Paar im Auftrag des russischen Geheimdienstes KGB nach Deutschland gekommen. Der Legende nach waren sie Österreicher, beide geboren in Südamerika. Über Standesbeamte in der Steiermark, die wohl vom russischen Geheimdienst bestochen worden waren, hatte das Paar echte österreichische Pässe erhalten, später heirateten sie.

Auch nach dem Ende des Kalten Krieges spionierten die Anschlags in Deutschland weiter. Sie suchten gezielt den Kontakt zu Personen aus Politik, Wirtschaft und Forschung, identifizierten potenzielle Quellen, die angeworben werden konnten - und führten auch selbst solche Informanten. Im Oktober 2011 flog das Agentenpaar schließlich auf und wurde festgenommen. Das Oberlandesgericht Stuttgart verurteilte die beiden wegen Agententätigkeit zu mehrjährigen Gefängnisstrafen. Heidrun Anschlag kam 2014 frei, Andreas Anschlag ein Jahr später. Beide wurden nach Russland abgeschoben.

Hintergrund von Marsaleks Interesse unklar

Ob eine mutmaßliche Abfrage zu dem Russen-Spion im Auftrag von Jan Marsalek erfolgte ist indes unklar. Warum aber könnte sich der österreichische Ex-Geheimdienstler Egisto O. für Andreas Anschlag interessiert haben? An den Ermittlungen zu dem Spion war O. jedenfalls seinerzeit nicht beteiligt.

In deutschen Sicherheitsbehörden rätselt man ebenfalls. Es sei vieles denkbar, heißt es, vielleicht sei es einfach Neugierde gewesen - oder jemand habe einen sogenannten "Spielauftrag" erteilt. Um zu testen, ob O. tatsächlich solche Informationen beschaffen kann.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste in der Sendung "Report München" am 24. Mai 2022 um 21:45 Uhr.