Tauchgang zur Nord-Stream-Anschlagsstelle
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Ein Jahr nach den Anschlägen Was wir wissen - und was nicht

Stand: 26.09.2023 17:04 Uhr

Seit den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines vor einem Jahr laufen weltweit Ermittlungen, Journalisten gehen Spuren nach und versuchen die Tat zu rekonstruieren. Was ist bisher bekannt - und welche Fragen sind noch offen? Ein Überblick.

Von Manuel Bewarder, Pune Djalilevand, Marcus Engert, Florian Flade, Michael Götschenberg, Georg Heil, Amir Musawy, Stella Peters, Reiko Pinkert, Jonas Schreijäg, Sandro Schroeder, Lea Struckmeier und Holger Schmidt

Was genau ist passiert?

Die beiden Pipelines Nord Stream 1 und 2 bestehen jeweils aus zwei parallelen Strängen und verlaufen auf dem Meeresboden der Ostsee von Russland nach Deutschland. Am 26. September 2022 gab es - über mehrere Stunden verteilt - mehrere Explosionen an den Pipelines.

Dabei wurden beide Stränge von Nord Stream 1 und einer der beiden Stränge der noch nicht in Betrieb befindlichen Pipeline Nord Stream 2 zerstört. Es besteht kein Zweifel, dass diese Explosionen absichtlich herbeigeführt wurden und die Pipelines zerstören sollten.

Karte von Bornholm mit den Pipelines Nord Stream 1 und 2

Wer hat den Anschlag ausgeführt?

Nach gemeinsamen Recherchen der ARD, der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) und der "Zeit" gehen die Ermittler von Bundeskriminalamt und Bundespolizei und des Generalbundesanwalts davon aus, dass der Anschlag mit Hilfe eines 15 Meter langen Segelboots, der "Andromeda", ausgeführt worden ist.

Dieses Boot wurde demnach regulär von einer deutschen Charterfirma für Sportboote gemietet und ist von Rostock aus in See gestochen. Durch die Aussagen von Augenzeugen vermuten die Ermittler eine Besatzung von sechs Personen. Darunter soll auch eine Frau sein. Wer diese Personen waren, versuchen die Ermittler derzeit zu klären.

Offenbar sind verfälschte Pässe beziehungsweise falsche Identitäten genutzt worden. Konkreter sind die Ermittlungen, wer hinter der polnischen Firma steht, die die Anmietung bezahlt hat. Hier führen die Spuren zu ukrainischen Staatsbürgern, die eine Beteiligung an den Anschlägen bestreiten.

Kann man einen solchen Anschlag wirklich mit einem Segelboot durchführen?

Laut den Recherchen halten das sowohl die Ermittler als auch unabhängige Fachleute für möglich. Zwar fehlen auf einem solchen Boot wichtige Sicherheitsmaßnahmen für das Tauchen in großer Tiefe - wie etwa eine Druckkammer für den Fall eines Tauchunfalls. Auch die Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten für Taucher sind für eine solche Operation nicht optimal.

Trotzdem gilt es für die Ermittler als möglich und sogar als wahrscheinlich, dass die "Andromeda" für den Anschlag genutzt wurde. In diesem Zusammenhang wurden auch Sachverständige von Einrichtungen des Bundes herangezogen. An Bord wurden unter anderem Sprengstoffspuren gefunden, die jenen an den Explosionsorten auf dem Meeresgrund entsprechen.

Durch Augenzeugen, aber auch durch technische Daten, haben die Ermittler die Fahrtroute der "Andromeda" weitgehend rekonstruiert. Sie führt von Rostock unter anderem über Wiek auf Rügen und Kolberg (Polen) zu den Explosionsorten.

Braucht man für die Tat nicht viel mehr Sprengstoff, als das Boot transportieren kann?

In einigen Veröffentlichungen zu den Anschlägen werden große Sprengstoffmengen von mehreren Hundert Kilo pro Explosionsort genannt. Eine solche Menge könnte tatsächlich nicht mit der "Andromeda" und sechs Personen an Bord transportiert werden.

Diese Zahlen beziehen sich allerdings auf die gemessene Erschütterung am Meeresboden. Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe hat gemeinsam mit dem Schwedischen Nationalen Seismologischen Netzwerk und weiteren internationalen Partner modelliert, dass das Hauptsignal der Explosion durch das austretende Gas verursacht wurde, weil die Pipelines unter Druck standen. Die Fachleute haben berechnet, dass sehr viel weniger Sprengstoff ausgereicht haben könnte, weil die Pipelines unter Wasser durch ihren starken Innendruck aufgeplatzt sein dürften.

Aber es gab doch Hinweise auf eine große Explosion?

Tatsächlich konnten die Explosionen von seismischen Messgeräten registriert werden, wie sie beispielsweise für die Erdbebenforschung genutzt werden. Allerdings muss bei der Bewertung dieser Aufzeichnungen ebenfalls der Innendruck der Pipelines berücksichtig werden, sagen Experten. Würde die gleiche Menge Sprengstoff nicht an der Pipeline, sondern einfach so auf dem Meeresboden gezündet worden, wären die Erschütterungen viel geringer ausgefallen.

Bedeuten "Spuren in die Ukraine", dass die ukrainische Regierung verantwortlich ist?

Nein, das ist zwar eine denkbare Möglichkeit, aber dafür gibt es bislang keinen Beweis. Es sind auch andere Varianten denkbar. Beispielsweise eine Tätergruppe, die zwar aus der Ukraine heraus agiert, aber keinen staatlichen Auftrag oder staatliche Unterstützung hat. Auch eine "False Flag"-Operation ist denkbar, mit der die Ukraine in Verdacht gebracht werden soll.

Was genau ist eigentlich eine "False Flag"-Operation?

Der Begriff "Falsche Flagge" (False Flag) kommt aus der Seefahrt und beschreibt eine List, mit der auf See in einem Krieg oder durch Piraten eine Täuschung über die Verantwortung für einen Angriff versucht wird. Beispiel: Eine Aktion der Konfliktpartei A gegen die Konfliktpartei B wird so durchgeführt, dass sie wie eine Aktion der Konfliktpartei C aussieht und deshalb B die Verantwortung bei C sucht.

Der Begriff stammt aus einer Zeit, in der einzig die Flagge die Herkunft eines Schiffes markierte. In der Geschichte gibt es viele Beispiele für solche Operationen, bei denen beispielsweise auch fremde Uniformen oder erbeutetes Kriegsgerät zur gezielten Verwirrung und zum Legen falscher Spuren verwendet wurden.

Können auch die Spuren in die Ukraine "False Flag" sein?

Ja, das ist theoretisch denkbar. Allerdings ist auch den Ermittlern klar, dass es eine solche List geben könnte. Derzeit haben die deutschen Ermittlungsbehörden keine konkreten Anzeichen die für falsche Spuren in die Ukraine - allerdings sagt das nicht, dass deshalb der Auftraggeber zwangsläufig die ukrainische Regierung gewesen sein muss.

Was hat es mit russischen Schiffen am Tatort auf sich?

Internationale Datenjournalisten und Seefahrtexperten haben auf mehrere russische Schiffe hingewiesen, die in den Tagen und Wochen vor den Explosionen sehr nahe bei den Tatorten waren. Auch deutsche Ermittler haben sich mit diesen Schiffen beschäftigt. Sie haben allerdings bislang keine Hinweise gefunden, dass die Anschläge mit Hilfe dieser Schiffe verübt worden sein könnten.

Die Ostsee ist ein hochmilitarisierter Raum, in dem sich schon vor dem Ukraine-Krieg Schiffe der NATO und Russlands gegenseitig intensiv bewacht und belauert haben. Die NATO hat dadurch eine sehr gute Datenlage über Funkverkehr, Kurse und Geschwindigkeiten dieser Schiffe. Zu einem Anschlag passen diese Daten nicht, heißt es aus Ermittlerkreisen.

Michael Götschenberg, ARD Berlin, zum aktuellen Ermittlungsstand

tagesschau24, 26.09.2023 18:00 Uhr

Was steckt hinter der Geheimdienstwarnung aus dem Juni 2022?

Im Juni 2022, also rund drei Monate vor den Anschlägen, hat der niederländische Militärgeheimdienst MIVD westliche Partnerdienste in Kenntnis gesetzt, dass man Informationen über einen in der Ukraine geplanten Anschlag auf Nord-Stream habe. Das haben die gemeinsamen Recherchen mit der "SZ, der "Zeit", dem niederländischen öffentlich-rechtlichen Sender "NOS" und weiterer Partner ergeben.

Diese Warnung enthielt auch ein konkretes Datum für den Anschlag und erreichte auch den deutschen Auslandsnachrichtendienst BND. Allerdings wurde der Hinweis erst bewertet, als das darin genannte Datum bereits vorbei - und die Pipeline noch intakt. Deshalb wurde der Hinweis nicht als besonders glaubwürdig bewertet und offenbar auch nicht an das Bundeskanzleramt weitergegeben.

Nach der Explosion der Pipelines meldete sich der MIVD erneut und hatte weitere Hinweise erhalten - darunter der auf ein Segelboot. Erst jetzt informierte der BND nach den Recherchen das Bundeskanzleramt. Der BND und das Kanzleramt nehmen keine Stellung zu den Vorgängen.

Zu Hintergründen der Sabotage der Nord-Stream-Pipelines recherchiert ein Team aus Journalistinnen und Journalisten von NDRWDR, dem rbb-Magazin Kontraste, dem ARD-HauptstadtstudioSWR, "Süddeutsche Zeitung" und "Die Zeit" gemeinsam. An der Recherche beteiligt sind auch die internationalen Partner "Expressen", "frontstory.pl", "Delfi" sowie "NOS/Nieuwsuur".

Mehr zu diesem Thema sehen Sie in der Reportage "Tatort Ostsee - Wer sprengte die Nord-Stream-Pipelines" ab sofort in der ARD-Mediathek und um 21:45 Uhr im Ersten.