Fläschen mit Corona-Impfstoff von BioNTech/Pfizer stehen in langen Reihen hintereinander
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Corona-Impfstoffe EU verhinderte faire Verteilung

Stand: 30.06.2022 06:00 Uhr

Die EU hatte zu Beginn der Corona-Pandemie eine weltweit gerechte Verteilung der Impfstoffe versprochen. Recherchen von Monitor zeigen, wie EU-Kommission und Hersteller dies verhinderten und Hunderte Millionen Menschen leer ausgingen.

Von Von Achim Pollmeier, Julia Regis und Herbert Kordes, WDR

Die Versprechen waren groß im ersten Jahr der Pandemie. Im Mai 2020 forderte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine gemeinsame Kraftanstrengung, um schnellstmöglich Corona-Impfstoffe und Medikamente herzustellen. Die sollten dann, so die Kommissionspräsidentin, "in jeden einzelnen Winkel der Welt" gebracht werden.

Die EU schien es ernst zu meinen. "In den Verhandlungen mit der Pharmaindustrie wird die Kommission (…) für Covid-19 Impfstoff als ein globales öffentliches Gut eintreten." Mehr noch: Die Kommission werde versuchen, gegenüber der Pharmaindustrie für das "Teilen von geistigem Eigentum" einzutreten, "insbesondere dann, wenn dieses geistige Eigentum mit öffentlicher Unterstützung entwickelt wurde".

Die Formulierung stammt aus einer Vereinbarung zwischen der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten aus dem Juni 2020. Sie ist selbst unter Fachleuten bis heute weitgehend unbekannt und schürt nun die Kritik an der tatsächlichen Politik der EU auf dem Höhepunkt der Pandemie. "Weder die Mitgliedsstaaten noch die EU-Kommission handelten dementsprechend. Sie taten eher das Gegenteil", sagt die belgische EU-Abgeordnete Kathleen van Brempt im Interview mit dem ARD-Magazin Monitor.

Kein Interesse an Impfstoffgerechtigkeit?

Recherchen der Brüsseler Organisation "Corporate Europe Observatory" (CEO) und Monitor zeigen jetzt, dass eine gerechte Verteilung der Impfstoffe bei der EU von Beginn an nicht verfolgt wurde. Im Juli 2020 hieß es demnach, es sei "wichtig", das Engagement für Impfstoffgerechtigkeit vom Impfstoffeinkauf der EU "zu trennen". Das geht aus EU-Protokollen zur Impfstoff-Beschaffung hervor. In der Folge sicherten sich die EU-Staaten Milliarden von Impfdosen, die sie zu Höchstpreisen eingekauft hatten und blockierten zudem eine Freigabe der Patente auf Corona-Impfstoffe.

Ende 2020 hatten Indien und Südafrika bei der Welthandelsorganisation beantragt, die Patente auf Covid-19-Impfstoffe, aber auch Medikamente oder Tests freizugeben. Dadurch sollten auch Produktionsstätten im globalen Süden die Produktion der Impfstoffe aufnehmen können. Trotz Unterstützung des Antrages durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und zahlreicher anderer Länder blockierte die EU-Kommission den Antrag und bezeichnete die Aussetzung des Patentschutzes laut internen Protokollen sogar als "das schlimmste denkbare Szenario".

"Hersteller bekamen ihr Geld zwanzig Mal zurück"

Ein zentrales Argument der EU-Kommission wie auch der Hersteller gegen eine Patentfreigabe sind die Milliardensummen, die in die Entwicklung der Impfstoffe investiert worden seien. Ohne Aussicht auf Gewinne gebe es künftig keinen Anreiz mehr für neue Forschung.

Van Brempt kämpfte lange für die Freigabe der Patente und hält dagegen: Es sei viel öffentliches Geld in die Forschung und Entwicklung der Impfstoffe geflossen. Natürlich hätten die Hersteller auch selbst Geld investiert. Aber: "Weil wir all diese Impfstoffe für die europäische Bevölkerung gekauft haben, bekamen die Hersteller zehn Mal, zwanzig Mal ihr Geld zurück. Warum muss das grenzenlos sein?"

Lobbyisten warnen vor Aussetzung des Patentschutzes

Doch die EU blockierte die Aussetzung der Patente von Beginn an - ganz im Sinne der Pharmaindustrie, die sich vor allem bei den Mitgliedstaaten und bei der EU-Kommission massiv dagegen eingesetzt hatte. Im Dezember 2020 sprachen Vertreter des Pharmalobby-Verbands "EFPIA" direkt bei der EU-Kommission vor.

In einem Schreiben warnten die Lobbyisten massiv vor der Aussetzung des Patentschutzes auf Corona-Impfstoffe: Es sei "eine extreme Maßnahme für ein nicht identifiziertes Problem" heißt es da etwa. Kritiker können das überhaupt nicht nachvollziehen. "In dem Moment befanden wir uns auf dem Höhepunkt der Pandemie", sagt Hans van Scharen von CEO. "Hunderttausende Menschen starben und die Pharmaindustrie sagt hier sinngemäß zur Kommission: Es gibt kein Problem, wir werden genug Impfstoff für die ganze Welt produzieren. Heute wissen wir, dass sie das eben nicht getan haben."

"Wir wussten, wir würden zu spät sein"

Die EU-Kommission kann auf Monitor-Anfrage auch heute noch keinen Fehler auf Seiten der EU erkennen. Die EU habe dabei geholfen, die Produktion der begehrten Impfstoffe in Europa massiv auszuweiten und Impfstoffe seien aus der EU in die ganze Welt exportiert worden.

Tatsächlich kamen in den ärmeren Ländern zunächst allerdings kaum Impfstoffe an. Laut einer Aufstellung von UNICEF wurden bis Ende September 2021 an afrikanische Staaten gerade einmal 16 Impfdosen pro Hundert Einwohner geliefert. In der EU waren es 157 Dosen - rund zehnmal so viel.

Die Konsequenzen dieses Mangels erlebte die südafrikanische Ärztin und Aktivistin Lydia Cairncross hautnah mit: "Im Mai hatten wir noch nicht mal die Älteren geimpft - und das fast sechs Monate nachdem der Impfstoff in der Welt verfügbar war. Wir haben die dritte Welle kommen sehen und wir wussten, wir würden zu spät sein."

Studie: Viele Todesfälle waren vermeidbar

Eine Studie des Imperial College London, die vergangene Woche veröffentlicht wurde, geht davon aus, dass rund 600.000 Todesfälle hätten vermieden werden können, wenn das Ziel der Weltgesundheitsorganisation erreicht worden wäre, bis Ende 2021 in allen Ländern mindestens 40 Prozent der Bevölkerung zu impfen. Doch selbst als die ungleiche Verteilung der Impfstoffe im Jahr 2021 immer deutlicher wurde, sorgten sich EU-Kommission und Mitgliedstaaten offenbar weniger um die möglichen Folgen ihrer Politik als um ihr eigenes Image.

Das zeigen etwa interne Protokolle aus dem Handelspolitischen Ausschuss, die CEO und Monitor exklusiv vorliegen. Im Januar 2021 heißt es da etwa, die Ablehnung der Patentfreigabe müsse "gegenüber der Zivilgesellschaft konstruktiv kommuniziert werden". Im November 2021, als die weltweite Ungleichheit bei der Impfstoffverteilung weltweit zu heftiger Kritik führt, heißt es in den Protokollen nur, man werde sich "auf das absehbare 'Schwarze-Peter-Spiel' gut vorbereiten."

"Manchmal staunt man über den Irrsinn der Welt", sagt Cairncross. "Wenn diese Pandemie unser Denken nicht geändert hat - was muss passieren, damit wir anders denken und nicht nur innerhalb unserer Grenzen oder unserer Provinzen oder unserer Kontinente?"

Mehr zu diesem Thema sehen Sie heute um 21:45 Uhr in der Sendung Monitor im Ersten.

Herbert Kordes, WDR, 30.06.2022 06:14 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die ARD in der Sendung Monitor am 30. Juni 2022 um 21:45 Uhr.